Nonnen in Bunt - Textbüro Hanisch | Texter Köln | Autor und Journalist
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Nonnen in Bunt

DIE ZEIT, Nr. 22/2022

Über Nacht in Gouda

Nonnen in Bunt

 

Früher ein Waisenhaus, jetzt ein Hotel: Das Weeshuis ist betont farbenfroh und opulent. Nur mit dem Schnittlauch wird gegeizt

Arme Annie. Wie sehnsüchtig mag sie auf dieses Hofportal gestarrt und sich hinausgeträumt haben? Drei Monate Hausarrest, nur weil sie ihre Haare mit einer heißen Stricknadel onduliert hatte. Laut einer Chronik war solche Putzsucht im Waisenhaus von Goudas Altstadt ein Verbrechen. Die Gebäude müssen Annie wie ein backsteinerner Schwitzkasten vorgekommen sein.

Heute sitze ich im Innenhof des Weeshuis Gouda und fühle mich von seinen Mauern umarmt: Seit einem Jahr ist das frühere Kinderheim mit dem klappbildgleich herausstechenden Treppengiebel und den klatschmohnroten Fensterläden ein Boutiquehotel. Blätter tändeln in den Kronen zweier Bäume, im Glas funkelt der Chardonnay. Und in meinen Ohren mischen sich Pianojazz und Vogelgezwitscher wie füreinander gemacht. Das Weeshuis verlassen? Ich denk nicht dran.

Es fiel ja schon schwer, aus dem Zimmer zu gehen. Schließlich reist man, um zu staunen. Und das hört in dieser Farborgie gar nicht auf: Die Vorhänge feiern ein römisch-katholisches Violett, die Sessel haben die irisierende Eleganz grüner Käferflügel, der Tisch steht auf einem Sockel im glühenden Kurkumagelb indischer Chutneys. Neben der schneewittchenweißen Schalenbadewanne befindet sich ein Hocker aus goldenen Kugeln, im Tapetenmuster rankt phosphorgrün ein futuristisch anmutendes Blätterwerk. Mit alldem kontrastiert die Wucht jahrhundertealter Stützpfeiler und Deckenbalken. Sie sind so gewaltig, dass man meint, das Schwerste, was sie zu tragen haben, seien sie selbst.

„Wir haben einen romantischen Geschmack“, sagt Sharon van Gastel über sich und ihren Mann Lennart. Die neuen Inhaber machten aus dem Karree, das zwischen 1599 und 1948 eine Waisenanstalt, kurz eine Bücherei und jahrelang verlassen war, ein Hotel mit 25 Zimmern. Sharon begleitet mich im löschpapierrosa Hosenanzug durchs Haus. Es geht über Schachbrettfliesen aus dem 17. Jahrhundert und dschungelbunte Teppichböden, die ich aus einem Marsupilami-Comic zu kennen meine. Wir passieren Blumengebinde wie explodierende Farbeimer und schwellende Sessel, die im Abendgold schimmern, als wollten sie gestreichelt werden. Das Licht erleuchtet auch Vasen im floralen Design. Es heißt „Plateel“ und ist eine Keramiktradition aus Gouda, die an den Jugendstil erinnert. Sie dient dem Interieur als Leitmotiv. „Jeder denkt an den Käse, wenn er Gouda hört“, sagt Sharon. „Dabei gibt es hier kaum eine Familie, die nicht irgendwann einmal im Plateelgeschäft war.“

Plateelteller hängen auch in der Cocktail-Bar Coco mit ihrem Mid-Century-Mobiliar in allen Likörfarben rund um einen Holztresen. Hätte die Bar ein Wappentier, es wäre der Pfau. Tatsächlich ist ihre Namenspatronin Coco Chanel. Sharons Hang zur Opulenz zelebriert nicht nur den Überschwang des Plateel. Sie widmet ihr Hotel mit seiner Vorliebe für Farben, Blumen und runde Formen auch starken Frauen, darunter ausdrücklich den Nonnen, die das Waisenhaus einst gründeten.

Das Fine-Dining-Restaurant Lizz ist allerdings nach keiner Schwester Oberin benannt, sondern nach Liz Taylor. Es ist strahlend hell und voller Pflanzen wie ein Wintergarten. Außer dem vielen Grün soll nichts ablenken von den Kreationen Martijn Kajuiters und Remco Kuijpers, die sich beide vorher getrennt einen Stern erkochten. Und was soll man sagen? An ihrer Kunstfertigkeit besteht kein Zweifel. Die abgeflämmte Entenleber mit Shitakepilzen und Umeboshi-Pflaumen würdige ich mit vor Andacht geschlossenen Augen.

Das Frühstück gibt es anderntags in der Regentenkammer unter den Augen einstiger Waisenhaushonoratioren. Die auf dem Ölgemälde verewigten Halskrausenträger wären überrascht über den Heiterkeitsbooster, den man ihrer düster-ernsten Welt verpasst hat. Allein die an sich großmütterlichen Messingstehlampen: Knallwache Fransen in Warnorange verleihen ihnen Verve und Coolness.

Das Frühstück kommt auf Etageren in Gestalt gusseiserner Ranken, ebenfalls besorgt vom Sternekoch Kajuiters. Entsprechend klein, fast exemplarisch sind die Portionen. Doch man kann dazubestellen. Ein Rührei zum Beispiel. Ein Rührei. Es erscheint kreisrund und gekrönt von einer Scheibe Speck und genau vier Schnittlauchsprengseln.

Im Weeshuis macht man Ferien von der Realität. Sie zu ignorieren wäre aber auch nicht richtig. Also raus in die Stadt, hin zum riesigen Marktplatz. In seiner Mitte jubelt sich der Solitär des neugotischen Rathauses in die Höhe wie eine megalomane Kleckerburg. Drumherum ist Markt. Und natürlich: Käse. Es gibt die Goudalaiber je nach Geschmack in Trüffelschwarz und Wasabigrün, in Chilirot, Senfgelb oder Lavendellila. Fast glaube ich, Sharon habe auch hier ihre Hände im Spiel.

Einen Steinwurf weiter befindet sich die „Gouda Cheese Experience“. Im Foyer des neuen Museums sieht man Bilder, auf denen Menschen an einer Plastikkuh herummelken und Käseattrappen bürsten. Nach einem Besuch berge der Goudakäse keine Geheimnisse mehr, wird versprochen. Ich wüsste nicht, welche er haben sollte. Aber ich will sie ihm lassen.

Goudas größter Schatz ist von anderem Kaliber. Es sind die 72 bis zu 20 Meter hohen Buntglasfenster der Johanneskirche, die den Bildersturm der Calvinisten überlebt haben – die Bibelszenen und Schlachtengetümmel müssen das Hollywood ihrer Zeit gewesen sein. Ich gehe erst wieder, als mein Nacken schmerzt. Dann spaziere ich die Grachten entlang. Boote dümpeln, Windmühlen drehen sich, ginsterblonde Mädchen knabbern Sirupwaffeln. Gracht für Gracht zögere ich die Rückkehr hinaus. Denn ich weiß ja: Das Weeshuis ist eine Reuse. Wer einmal drin ist, kommt kaum mehr hinaus. Wenngleich aus anderen Gründen als ehemals Annie.