Party mit den Ahnen
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Party mit den Ahnen

DIE ZEIT, Nr. 51/2009

Party mit den Ahnen

 

Auf Bali nehmen Familien Gäste in ihr Haus auf und lassen sie an ihrem Leben teilhaben. Eine Woche unter Brahmanen

Schluss jetzt! Hau endlich ab! Meine innere Stimme wird langsam rabiat. Doch sie hat keine Chance. Wie gelähmt stehe ich in diesem Palmenhain auf Bali und schaue einem Toten beim Verbrennen zu. Die Menschen um mich herum führen sich auf wie bei einem Lagerfeuer. Sie lachen und flachsen, lutschen Eis und trinken Bier. Mittendrin thront die Leiche auf einer riesigen Tigerfigur. Über die beugte sich eben noch ein skeletthaft dürrer Priester in weißer Smokingjacke, brabbelte Mantras und arrangierte Berge von Opfergaben auf dem Körper. Inzwischen steht das ganze Ding in Flammen. Ein Männlein rennt herum und versprüht Parfüm, um den Geruch von verbrennendem Fleisch zu bekämpfen. Asche weht auf mein Hemd, mein Gesicht, meine Haare. Da kracht der Tote aus dem Gestell, und zwei Kerle zerteilen ihn mit Stangen. Es sieht aus, als dröschen sie Getreide.

„Nur wenn er ganz verbrennt, löst sich seine Seele. Nur dann wird er zum Ahnen und wird irgendwann wiedergeboren“, sagt der Priester. Ich erschrecke, als er plötzlich neben mir steht. Der Mann ist Anfang fünfzig, sieht jetzt aber aus wie ein ausgemergelter Greis. Er scheint während der Zeremonie um Jahrzehnte gealtert zu sein. „Die Sache ist fürchterlich anstrengend“, schnarrt er erschöpft. „Der kleinste Verstoß gegen das Ritual genügt, und die Seele des Toten rast vor Wut. Und es gibt nichts Schlimmeres. Sie kann dann auf tausend Arten ins Schicksal der Lebenden eingreifen.“ Was er sonst noch sagt, bekomme ich nicht mehr mit. Die Musik des Gamelan-Orchesters klingt nämlich, als regne es Eisenbahnschwellen. Sie stammt von topfartigen Glocken, die aussehen wie Brüste aus Metall. Auf die prügeln die Musiker ein. Zu ihren Sarongs tragen sie Spiegelbrillen und T-Shirts mit aufgedruckten Heavy-Metal-Monstern. Kopfschmerzen klopfen von innen an meinen Schädel. Schlecht ist mir auch. Doch ich bleibe stehen, bis von dem Tiger nur noch die Umrisse eines spillerigen Pudels übrig sind.

Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist die Nacht noch lange nicht fertig mit mir. Sofort fluten Erinnerungen an den brennenden Mann mein Hirn. Aber das macht nichts. Schließlich sollen meine Ferien anders sein als die der meisten Urlauber auf Bali. Ich will keine Surfkurse, keine Strandpartys, keine Massagen in einem dieser stilversessenen Hotels. Ich will wissen, wie sich Bali wirklich anfühlt. Deswegen bin ich ins Inselinnere gefahren, in das 3000-Seelen-Dorf Mas nahe der ehemaligen Königsstadt Ubud. Dort wohne ich bei Gus De. Seine Familie nimmt seit ein paar Jahren Gäste auf, um ihnen das wahre Bali zu zeigen.

Die honigtriefenden Kuchen stülpen sich wie ein Mundschutz über die Zähne

Gus De ist der Neffe des Totenpriesters. Mit seinem runden Kopf und seinen weichen Konturen wirkt er wie aus Teig geknetet. „Wenn du das Leben verstehen willst, kommst du um den Tod nicht herum“, hatte er gesagt, bevor er mich gleich am ersten Tag mit zu der Einäscherung nahm. Jetzt sitzen wir auf der Veranda meines Gästezimmers und frühstücken honigtriefenden Reiskuchen. Jeder Bissen stülpt sich über die Zähne wie ein Mundschutz aus Kautschuk. Mein Feriendomizil sieht aus wie ein Gartenpavillon und gehört zu einem ummauerten Gehöft, in dem sich mehrere zierliche Häuser mit Terrassen und tiefen Dächern verteilen. Aus den Wänden platzen Reliefs, vom Schnitzwerk der Firste scheint das Blattgold zu tropfen.

Meine Gastfamilie gehört zu den ältesten Dynastien auf Bali. Einer ihrer Vorfahren war ein bedeutender Hindupriester aus Java. Der zeugte mit einer Frau aus Mas vier Söhne und gründete so vor einem halben Jahrtausend die Brahmanenkaste auf der Insel, die eine hinduistische Enklave im islamischen Indonesien ist. Aber das heißt nicht viel. Weil der Hinduismus auf Dogmen pfeift, ist er in der balinesischen Diaspora anstandslos mit altmalaiischem Ahnenkult, Geisterglauben und einem Schuss Buddhismus zu einem wilden Gebräu vergoren. Es ermöglicht den Balinesen sogar, die Idee der Wiedergeburt mit dem Glauben an die Allgegenwart der Vorfahren zu vereinen. „Unsere Religion hat noch jeden Fremden überfordert“, sagt Gus De. Er legt seine Hände in den Nacken.

Nach und nach bevölkert sich der Hof. Gus Des Frau Putri kommt mit den Söhnen Dode und Duvi, die wie lustige Vögel über den Rasen hüpfen. Angestellte erscheinen von rechts und links und tragen Kram herum. Als Letzte zeigen sich Gus Des Eltern in brokatbesetzten Sarongs. Wedha, der Vater, ist ein stangenhaft dünner Mann von asketischer Eleganz. Ein balinesischer Gary Cooper, so kommt er mir vor. Doch je länger ich beobachte, wie er den ganzen Tag auf dem Anwesen herumstromert, desto mehr wirkt er auf mich wie ein gelangweilter Junge in den großen Ferien. Sein Geschäft leide unter der Wirtschaftskrise, gibt er zu. Der Mann mit den lotrechten Falten ist Exporteur von Holzschnitzereien – und nicht der einzige in Mas.

Der Ort gleicht einem balinesischen Oberammergau. Hier wird mit insektenhafter Emsigkeit geschnitzt. Auf der Hauptstraße steht das komplette Personal der indischen Epen Ramayana und Mahabharata Spalier, Ladenbesitzer erklären einem auf Schritt und Tritt, was die abgespreizten Finger, Blickrichtungen oder Fußstellungen ihrer hölzernen Götter bedeuten. Doch es geht auch profaner. Immer mehr Geschäftsleute eifern Wedha nach, der als Erster aus Mas exportierte, was man hier „Pop Art“ nennt: Kitsch für die Welt. Zum Beispiel Eishockeyspieler für einen Kunden aus Vancouver. In einer der Werkstätten entstehen gerade 300 Stück davon. Gleich nebenan schnitzen halb nackte Männer an 650 identischen Südseegötzen für eine Order aus Hawaii. Und wieder ein Stück weiter sitzt ein dickes Mädchen auf einem Berg von Holzpenissen und beschmiert sie mit brauner Schuhcreme. Die Stücke haben hinten einen Schlitz. Da kommt später ein Flaschenöffner hinein. Vor allem Japaner seien verrückt danach.

Wieder zu Hause, freue ich mich auf ein Essen im Kreis der Familie. Doch daraus wird nichts. Mein Hühnchen in Kokosmilch steht einsam da. Man hat es aus einem der zwei Restaurants gebracht, die Gus De in Ubud betreibt. Es gibt zwar eine vom offenen Feuer verkohlte Freiluftküche, doch gekocht wird da kaum. „Essen ist keine große Sache auf Bali“, sagt Gus De. Stimmt wohl. Wo immer ich Balinesen beim Essen beobachte, sehe ich sie mit freudloser Miene über ihre Teller gebeugt, als erledigten sie eine mühselige Pflicht. Meine Gastfamilie erwische ich nie bei einem gemeinsamen Mahl. Nur manchmal stehen zwei zusammen und kauen Pesan Celeng. Das sind Bällchen aus Schweinefleisch und Blut. Sie schmecken scharf und muffig.

Nach drei Tagen bewege ich mich so zwanglos in der Familie, als kennte ich sie seit Jahren. Vormittags trage ich nichts als einen Sarong, den ich mittlerweile auch binden kann. Am Anfang saß er zu eng, und ich trippelte wie eine Geisha. Jetzt spiele ich darin sogar Fußball mit Dode und Duvi. Und immer wenn der Ball gegen eine der vielen Holzmasken an den Wänden knallt, biegt Wedha um die Ecke, und ich fühle mich ertappt wie früher beim Bolzen zwischen Vaters Blumenbeeten. Doch Wedha lacht nur. Dann bringt er Kaffee und erklärt, warum man gar nicht anders kann, als sich hier wohlzufühlen. „Weil ich in allem stecke, was du siehst.“

Wedha genießt mein dummes Gesicht und lässt sich in den Schneidersitz fallen. Er deutet auf seine Füße, seine Ellen, seine Schultern, seine Fingerglieder. „Bevor wir ein Haus bauen, vermessen wir zuerst den Bauherrn, dann multiplizieren wir jeden Millimeter seines Körpers nach uralten Regeln und übertragen seine Körpermaße auf den Grund. Nur so bekommst du ein harmonisches Zuhause.“ Wedha macht eine Pause und ein strenges Gesicht. „Aber du darfst auf keinen Fall Fehler machen“, fährt er fort. „Sonst kommen Krankheiten, Ehen brechen auseinander, und die Kinder gedeihen nicht.“ Mir fällt sein im Zeitraffer vergreister Bruder ein, der die Totenverbrennung leitete. Und mir dämmert, wie wenig Bali zu tun hat mit der saloppen Räucherstäbchenesoterik des Westens.

Auf dem T-Shirt des Schamanen steht „Perfect Satisfaction“

Die Insel ist ein Bedeutungsgestrüpp, in dem sich auch die Einheimischen verheddern. Darum gibt es für jeden Ritus Spezialisten. Im Grunde aber ist alles prima aufgeräumt. Die Balinesen teilen ihre Welt in kaya und kelod. Kaya bedeutet Richtung Berge, also Norden. Dort liegt der höchste Vulkan der Insel, auf dem die Hindugötter Shiva, Brahma und Vishnu wohnen. Ganz Bali ist auf ihn geeicht. Der Haustempel ist kaya, Wedhas Pult, an dem er Sanskrittexte studiert, ist kaya, das Kopfende meines Bettes ist kaya.

Alles, was nach Süden, zum Meer hin ausgerichtet ist, ist kelod. Dort hausen die Dämonen, die der Hinduismus nie verdrängen konnte. Schweineställe, Abfallgruben, auch die Küche sind kelod.“ Der Mensch befindet sich dazwischen und dient dem Ausgleich der Kräfte“, sagt Wedha und zündet sich die nächste Nelkenzigarette an. Ein Geruch von Hustenbonbons schwängert die Luft. Da zieht Gus Des Frau Putri mit Opferkörben vorbei. Die Götter verehrt sie mit Betelblättern, Tabak und Zuckerzeug, die Dämonen besänftigt sie mit Fleisch, Ingwer und Schnaps. Reis bringt sie auch. Den mögen Götter genauso wie Dämonen.

Am erhabensten wächst er in den Bergen von Jatiluwih. Gus De und ich brechen am nächsten Morgen dorthin auf. Das Grün der Reisfelder leuchtet wie Phosphor. Büffel glotzen mürrisch aus Wasserlöchern. Und hinter jeder Kurve wird gewerkelt. Wir fahren durch die Dörfer der Silberschmiede, der Steinmetze, der Batikfärber. Balinesen können nicht lockerlassen. Alles provoziert sie zu Kunstwerken. Auch die Landschaft. Je höher wir uns in die Berge schrauben, desto kühner werden die Amphitheater der Reisterrassen. In einem Feld steht ein Bauer. Sein Gesicht liegt im Schatten eines wokförmigen Huts. Er erntet gerade Reis mit einem Messer, das kaum größer ist als eine Nagelschere. Warum so umständlich? „Weil die Reisgöttin Dewi Sri in jeder Pflanze wohnt“, sagt der Alte. „Mit einem großen Messer würden wir sie erschrecken.“ Die Göttin des Reises ist also ein Seelchen. Vielleicht setzen ihr deswegen regelmäßig Dämonen zu. Erst vor Kurzem hätten sie wieder seine Felder im Griff gehabt, erzählt der Bauer. Nur ein Schamane habe sie vertreiben können.

Der Schamane heißt Ketut Sukarya und ist ein fleischiges Kraftpaket, das uns in einem Gehöft voller knurrender Hunde empfängt. Auf seinem T-Shirt steht „Perfect Satisfaction“. Im Haustempel gibt es erratische Steine und Schalen mit Reisschnaps. Hier bringt er sich in Trance und beschwört die bösen Kräfte. „Oft kommen sie in Gestalt von Mäusen“, sagt Ketut. Mit denen habe er leichtes Spiel. Gegen eine andere Macht aber sei selbst er hilflos. Er meint Balis Regierung, die immer mehr Wasser zu Hotels und Golfplätzen umleite. „Jedes Jahr vertrocknen Felder, und meine Aufträge werden weniger.“ Der Exorzist zieht genervt die Nase hoch.

Die Zuschauer beim Hahnenkampf werfen mit abgenagten Maiskolben

Die Balinesen kommen mir vor wie verwegene große Brüder, die einem Dinge aus einer schillernden fremden Welt erzählen, ohne dass ich das nachprüfen könnte. Doch langsam gefällt mir das. Überall lauert ein Sinn. Als wir nach Hause kommen, ist es Mitternacht, und Gus Des Mutter flicht und schnippelt immer noch an Opfergebinden herum. Seit Tagen geht das so. Die Gespinste aus Palmblättern wirken wie von kunstsinnigen Spinnen gewoben und sollen morgen zum Einsatz kommen. Da steigt eine große Abschiedsparty für die Ahnen, die man gerade auf Besuch unter den Menschen wähnt.

Dass sie enttäuscht sein könnten, scheint mir an meinem letzten Tag undenkbar. In den wie onduliert aufragenden Steingebirgen der Tempel weiß ich gar nicht, wohin ich zuerst schauen soll. Grell geschminkte Mädchen tanzen ruckhaft wie Marionetten. Affenwesen mimen die Armee des Ramayana-Helden Hanuman. Überall halten sich Betende bunte Blüten an die Stirn. Selig treibe ich im Bilderstrom dahin. Aber Gus De hat andere Pläne. Mit flatternden Sarongs brausen wir auf dem Motorrad zu einer Art Westfalenstadion des Hahnenkampfs. In ganz Asien gibt es keine größere Arena dafür. Auf den steilen Rängen brüllen rund 2000 Männer ihre Wetteinsätze in die Hitze. Es riecht nach Schweiß und Erregung, unten in der Manege treiben die Besitzer ihre Vögel zur Raserei. Als immer mehr Rücken die Sicht auf den Kampfplatz versperren, hagelt es abgenagte Maiskolben. Aber niemand pöbelt, der Furor ist freundlich und ein erfrischender Kontrast zu der ziselierten Zartheit Balis.

Als eine neue Runde beginnt, fällt der Tumult jäh in sich zusammen. Mit tänzerischer Anmut wird der nächste Kampf eröffnet. Die Hähne weichen den Attacken aus, indem sie über ihre Gegner hinwegfliegen. Doch bald verknäulen sie sich zu einem wilden Federchaos. Der Verlierer landet in einem blutverschmierten Graben, wo er für den Kochtopf präpariert wird. Drei Mal setze ich auf Hähne mit weißem Gefieder. Aber ihre schwarzen Kontrahenten machen kurzen Prozess. Muss ich mir Sorgen machen? Fragend sehe ich Gus De an. „Alles ist gut“, sagt der. „In der Erde wohnen die Dämonen und trinken das Blut. Sie werden dir gewogen sein.“

Ich setze mich vor das Stadion, starre auf ein Reisfeld und stelle mir vor, wie das Hahnenblut in die Mäuler kleiner Teufel rinnt, die mich dafür beschützen werden. Und plötzlich kommt mir Balis Geisterwelt tröstlich vor. Ich inhaliere den zuckrigen Rauch einer Nelkenzigarette und möchte bleiben.