Ruhe vor dem Turm
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Ruhe vor dem Turm

DIE ZEIT, Nr. 43/2017

Ruhe vor dem Turm

 

Kaum ein Hotel liegt abgeschiedener als das Torre del Visco. Was tut man nur in dieser Einsamkeit? Am besten gar nichts.

Ist das noch eine Anfahrt oder schon eine Entführung? Die Landschaft schien bereits einsam genug, da zweigte auch noch diese Schotterpiste ab. Jetzt mäandert sie über einen Waldrücken, als seien Verfolger abzuschütteln. Aber wahrscheinlich geht es hier um etwas anderes: Kurve um Kurve soll man der Welt entwunden werden.

Irgendwann weichen die Pinien zurück, eine Tuffsteinfestung mit Terrakottadächern und einem klobigen Wehrturm kommt in Sicht, dahinter öffnet sich ein majestätisches Tal. Worüber die Trutzburg wohl wacht? Womöglich über ihre eigene Weltabgeschiedenheit – und die ihrer Gäste.

Das Hotel La Torre del Visco versteckt sich in Spaniens Nordosten, wo die Region Matarraña mit Zypressen und Olivenhainen an die Toskana erinnert, aber ohne deren Auftrieb: Matarraña zählt zu den am spärlichsten besiedelten Gegenden des Landes. Sogar viele Spanier haben noch nie von ihr gehört.

Ist das Auto aus, herrscht Stille. Im ersten von mehreren halb offenen Patios liegt ein Bernhardiner in der Sonne. Er bellt ein Mal und lässt dann gelangweilt den Kopf auf die warmen Steinplatten sinken. Rosen klettern über unverputzte Mauern, auf verschiedenen Ebenen liegen Gärten, in denen Springbrunnen klickern. Eine Rezeption ist nicht zu finden, man setzt sich auf eine der Bänke unter Mandelbäumen, beobachtet das Spiel der durchs Blätterdach brechenden Sonnentupfen und wartet einfach.

Kaum ist dann das Zimmer bezogen, läuft man wieder hinaus in das impressionistische Schattengeflacker des Gartens. Man genießt ein merkwürdig aus der Zeit gefallenes Sommerfrischlergefühl, als eine Frau mit Gartenschere erscheint: die Besitzerin Jemma Markham, die gerade Sträuße für die Zimmer zusammenstellt. Die Engländerin trägt zartes Blondhaar, dazu ein schwebendes Lächeln. Kurz darauf sitzt man mit ihr bei einer Tasse Tee. „Mein Mann und ich wurden für verrückt gehalten, als wir das Haus eröffneten“, erzählt sie. „Kleine Landhotels sind eben eine ziemlich britische Erfindung. Unsere spanischen Freunde fragten: Was sollen deine Gäste hier tun? Keiner verstand, dass es gerade darum ging: ums Nichtstun.“

Nach dem Studium war Jemma 1973 mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann Piers von London nach Madrid gezogen. Zwei Jahrzehnte arbeiteten sie erfolgreich in der Medienbranche, dann suchten sie nach einem Anwesen für ihr Hotelprojekt. Sie fanden: die Ruine einer Masía aus dem 15. Jahrhundert. Masías sind autarke und wehrhafte Mehrfamilienhöfe mit verschachtelten Wohnhäusern, Getreidespeichern und Ställen. Nach dem spanischen Bürgerkrieg in den dreißiger Jahren verschanzten sich oft Rebellen gegen Franco darin. Als Antwort verwüstete die Guardia Civil die Felder, trieb die Bauern in die Dörfer und ließ die Häuser verfallen. So war es auch hier.

Für einen Rest von Patina nach der Renovierung sorgen Natursteinwände und freie Deckenbalken, die gut zur gedrungenen Gemütlichkeit des Torre del Visco passen. Die Räume selbst könnten auch zu einer rustikalen Herberge für Wanderer gehören. Andererseits herrscht überall, auf den 16 Zimmern wie in den Salons, eine gedämpfte, sorgfältig balancierte Eleganz: Etwas weniger wäre zu wenig, etwas mehr wäre zu viel. Die moderne Kunst an den Wänden ist gediegen, vor Kaminen stehen Sesselgruppen, die wie Zusammenkünfte weicher, freundlicher Tiere wirken. Man sieht viel Beige und Taubenblau, Kupfer und Lindgrün. Und hübschen Zierrat – Jugendstilvasen, Holzskulpturen, Mineralien. Es scheint, als habe Jemma ihn gesammelt, um der Weite der Natur ringsum mehr Behaustheit entgegenzusetzen.

Am späten Nachmittag trifft man auf den Terrassen ein paar Gäste im Bernsteinlicht der Abendsonne. Tagsüber flanieren sie leicht somnambul über die hundert Hektar, die zum Hotel gehören. Man liest, döst, probiert die zum Seufzen köstlichen Weine der nahen Terra Alta. Gesprochen wird stets mit gesenkter Stimme, nichts soll die poetische Ruhe stören.

Alle laben sich an der Stille wie an einem Elixier. Dank der Entrücktheit des Ortes herrscht der Eindruck, sämtliche Probleme lagerten in einem fernen Salzstock. Trotzdem denkt man viel nach. Obwohl: Vielleicht ist es kein Nachdenken, sondern ein Dahintrudeln von Einfällen und Hirngespinsten.

Abends bedauert man etwas, dass zur kernigen Landluft nicht die passende Küche auf den Tisch kommt. Stattdessen ziselierte Kochkunst. Wie zum Ausgleich gibt es morgens ein bukolisches Frühstück in der offenen Küche mit dunklem Holz und Töpfen an den Wänden. „Im Mittelalter war der Raum das Zentrum des Hofs“, sagt Jemma, „so soll es auch heute sein.“ Wie einst das Gesinde nehmen die Gäste an einem einzigen Tisch Platz und verdrücken die Spezialitäten, die Ana-Marie aufträgt. Die Herrin über das Frühstück ist eine unbedingt liebenswürdige Frau. Aber ihren himmlischen Mató, einen vor Zartheit fast schwerelosen Frischkäse, serviert sie mit einem Nachdruck, der keinen Widerspruch duldet. Gastfreundschaft bedeutet auch, ein guter Gast zu sein.

Wer hier frühstückt, rüstet sich für einen neuen Tag im läuternden Luxus der Abgeschiedenheit. Und wenn er irgendwann wieder über die Schotterpiste zurück in die Welt kurvt, hat er gelernt: Es sind die Schleichwege, die zu den angenehmen Seiten des Lebens führen.

 

In der Nähe

Judías blancas

Der Serrano-Schinken der Region ist in ganz Spanien bekannt. Doch mindestens so viel Spaß machen hier die judías blancas: weiße Bohnen, die den ganzen Tag vor sich hin köcheln und dadurch eine herrlich sämige Textur bekommen. Sie schmecken nach guter, alter Zeit und werden in tönernen Terrinen mit allem Möglichen serviert. Sehr lecker und typisch sind sie mit gebratenem Hering, wie man sie im Restaurant Fonda Alcalá in Calaceite bekommt.

La Pesquera

Jeder Winnetou-Filmregisseur käme aus dem Zungeschnalzen gar nicht mehr heraus: Die gezackten Grate rund um den Flusslauf des Río Ulldemo hinter Beceite schreien geradezu danach, von Indianersilhouetten bewacht zu werden. Trotzdem schaut man kaum hinauf, während man dem Pfad La Pesquera entlang des Flusses folgt. Denn die eigentliche Attraktion sind die pozas zwischen den Stromschnellen, die man je nach Jahreszeit bewandert oder beschwimmt: unfassbar transparente Felsenpools mit Wasser in delikatem Waldmeistergrün, aus dem man sich am liebsten Amulette machen ließe.

Mas de Bunyol

Es ist unmöglich, nicht an einen Western zu denken, wenn die Geier kommen. 10, 100, 300 – am Schluss sind es rund 450 Gänsegeier, die sich morgens aus den Bergen aufmachen, um im Observatorio Mas de Bunyol tote Kaninchen zu frühstücken. Ein tolles Spektakel. Und ein lehrreiches. Weiß man doch hinterher, dass sich die hocheleganten Piloten auf dem Boden so tapsig bewegen wie dicke Männer mit Hühneraugen.

Valderrobres

Wie Steine, die man zu Dörfern angehäuft hat, thronen die karamellbraunen Weiler der Matarraña auf den Hügeln. Auch der Hauptort Valderrobres wirkt von Weitem, als sei er eine Verlängerung der Natur mit architektonischen Mitteln. Kaum hat man seine Altstadt über eine Brücke betreten, findet man sich in einem maurischen Labyrinth wieder: Überall steigen verwinkelte Gassen, Treppen und Durchgänge von geradezu mysteriöser Schönheit bergan. Wein rankt über Torbögen, Brunnen schwatzen mit sich selbst, Katzen schleichen als lautlose Wächter herum. Ganz oben hocken ein Kastell aus dem 14. Jahrhundert und die gotische Kirche Santa María la Mayor, deren Kapitelle die Geschichte von Noah erzählen. Keine passte besser. Denn auch das in der Zeit geronnene Valderrobres kommt einem vor wie eine Arche.

Via Verde

Schon nach wenigen Pedaltritten breitet sich in der Brust ein reines, glitzerndes Freiheitsgefühl aus, das einen bis zum Schluss nicht mehr verlässt: Die Via Verde ist ein Traum von einem Radweg. Auf der umgemodelten Bahnstrecke von Cretas über Horta de Sant Joan nach Xerta fährt man 43 Kilometer meistens leicht bergab, hat den Blick frei für die Landschaft und versteht inmitten von Weinbergen, Mandelbäumen und zypressenbehüteten Olivenhainen, weshalb die Matarraña die „spanische Toskana“ genannt wird. Wer die Fahrräder bei einer Agentur bucht, kann sich dann am Ziel mit Auto und Radanhänger abholen und zurückbringen lassen.

El Parrizal

Wahr ist, dass Pablo Picasso 1909 einige Zeit in Horta de Sant Joan verbrachte, um dort vom Scharlach zu genesen. Aber ob ihn der Blick auf die Bergkette des Parc Natural dels Ports damals tatsächlich zum Kubismus inspiriert hat? Das wird hier gerne behauptet, lässt sich aber nur schwer nachprüfen. Es lohnt sich so oder so, den Canyon El Parrizal auf dem gleichnamigen Weg zu durchwandern. Die Felsen mögen Picasso nie Modell gestanden haben. Sie sehen aber immerhin aus, als habe die Natur selbst Jahrmillionen über ihre Form nachgedacht, um sie so kunstvoll hinzubekommen.