Tief gläubig - Textbüro Hanisch | Texter Köln | Autor und Journalist
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Tief gläubig

DIE ZEIT, Nr. 11/2007

Tief gläubig

 

Hundert Meter unter der Erde haben Bergleute im polnischen Wieliczka ein wundersames Reich mit Heiligenstatuen und Kapellen erschaffen – ganz aus Salz

Was für eine Dunkelheit. So finster, dass man einen neuen Namen für sie erfinden müsste. Ihr Schwarz: der blanke Nihilismus. Ein Schwarz, das alles verschluckt und alles verneint. Sieht so die Welt aus, wenn man tot ist? Und diese Stille. Eine betäubende Lautlosigkeit, in der man das Atmen vergisst. Immerhin rauscht das Blut in den Adern. Man hört es pulsen wie eine innere Brandung. Uns gibt es also noch. Mich und Marek, der jetzt seine Grubenlampe wieder anknipst und den Spuk beendet. Mit listigem Lächeln taucht er vor mir auf. Steht wieder da, mit eingezogenem Kopf, 100 Meter tief in den Eingeweiden von Wieliczka. „Gehen wir zurück?“ Ja, Marek. Lass uns gehen. Zurück zu König Kasimir, Kopernikus und der heiligen Kinga, die hier unter der Erde wohnen.

Der Rückweg führt durch einen engen Korridor. Kleine Salzkristalle knirschen unter unseren Sohlen. An den Wänden wachsen weiße Haare und blumenkohlähnliche Wucherungen aus Kochsalz. Wieliczka ist das größte historische Salzbergwerk der Welt. Und einer der bedeutendsten Schätze Polens. Warum, wird gleich offenbar. Zwei Kurven noch, ein letztes Klacken unserer Plastikhelme gegen graugrünes Salzgestein, dann öffnet Marek die winzige Holztür. Wir ducken uns, und plötzlich ist es, als wechselten wir von einem Traum in den nächsten. Honiggelbes Licht flutet eine turnhallengroße Kammer. Balkengewölbe wie gotische Kirchenschiffe rücken ins Blickfeld, Emporen, Galerien und schmucke Holztreppen, die am Rand von illuminierten Schlünden und Seen mäandern. „Die Touristenroute“, sagt Marek und blickt dem Gänsemarsch einer italienischen Reisegruppe hinterher. „Auf der sieht man weniger als ein Prozent der Mine. Wären wir bei unserem Abstecher weitergegangen – acht Wochen hätten wir gebraucht, um alles abzulaufen.“

Der Mittvierziger ist heute mein Privatführer. Ein schlaksiger Mann mit schwermütigen Augen und einem tiefen Grübchen im Kinn. Über Mareks Krawatte lappt ein auffällig zerschlissener Hemdkragen, der zum kohlschwarzen Einreiher mit Samtbesatz und goldenen Knöpfen wirkt wie ein Versehen. Das Hemd gehört Marek selbst, der prachtvolle Anzug der Minenverwaltung. Es ist die Galauniform jener Bergleute, die dieses gigantische Hohlraumsystem aus mehr als 300 Stollenkilometern und über 2000 Kammern geschaffen haben. Bis zu 327 Meter tief verteilt es sich unter der polnischen Kleinstadt Wieliczka nahe Krakau.

Viele der 300 Führer im schwarzen Staat sind pensionierte Bergmänner und sprechen nur Polnisch. Marek aber, der arbeitslose Philosophielehrer, führt auch auf Deutsch durch die Mine. Mit dem verschnupft klingenden Akzent polnischer Intellektueller legt er los. Sein Vortrag ist ein einziger Aufruf zum Staunen und gespickt mit Wussten-Sie-schon-Sätzen. Wussten Sie, dass man hier der Erde in sieben Jahrhunderten 7,5 Millionen Kubikmeter Steinsalz entriss? Dass die polnischen Könige gut ein Drittel ihrer Staatsausgaben mit den „Krakauer Blöcken“ bestritten? Und dass die Saline noch im 19. Jahrhundert der größte Industriebetrieb Polens war, wussten Sie das?

Wusste ich nicht, Marek. Aber ich weiß, dass die jährliche Million Touristen kaum wegen eines stillgelegten Bergwerks hierherkommt, sondern wegen einer merkwürdigen Gegenwelt aus Salz. Dass sie ein unterirdisches Disneyland anlockt, mit dem man ein ganzes Suppenmeer würzen könnte. Und ich staune. Über all die Kronleuchter, Fresken und Skulpturen, die hier von den Bergleuten zu verschiedenen Zeiten aus den Salzstöcken modelliert wurden. Während wir uns immer tiefer in die Erde schrauben, treffen wir im Gewirr der Treppen und Gänge die ganze Galerie ihrer Helden. Die kosmonautenhafte Salzstatue von Nikolaus Kopernikus aus den siebziger Jahren, die Büste König Kasimirs, den Feldherrn Józef Piłsudski mit seinem gewaltigen Seehundschnauzer. Vor allem aber stolpern wir an Kapellen, Heiligenstatuen und Apsiden aus purem Kochsalz vorbei. Viele Führer bekreuzigen sich aufwendig, wenn sie eine Betnische passieren. Marek tippt nur kurz in Cowboymanier an seinen Helm. „Agnostiker“, erklärt er grinsend.

Doch was dann kommt, raubt selbst Atheisten den Atem. Marek sagt schon eine Weile nichts mehr. Sein Verstummen wirkt wie ein tonloser Trommelwirbel.

Auf den letzten Metern eines langen Stollens wird es immer heller, dann geht es um die Ecke – und plötzlich gähnt unter einer Brüstung die Kapelle der heiligen Kinga in gleißendem Licht. Aber was heißt hier Kapelle. Eine wahre Kathedrale tut sich auf, eine hochfahrende Demonstration katholischen Opferwillens in 100 Meter Tiefe. Und alles ist aus Salz. Die drei Altäre, die beiden Seitenkapellen, die großen Flachreliefs, die fünf wuchtigen Lüster – alles schieres Salz. Eine Herde leckender Ziegen, und nichts bliebe übrig. Drei Bergmanngenerationen brachten die Salzfelsen zum Sprechen und widmeten sie der wundertätigen Königin Kinga, die einst das Salz in den Boden gezaubert haben soll. Dann sanken sie vor ihrem Werk auf die Knie.

Wer auf einer Extratour mit Marek die fürchterliche Finsternis abgelegener Schächte kosten durfte, kann sie verstehen. Er begreift dann, dass Wieliczkas sakrale Monumente als Bollwerke dienten gegen die Verneinungskraft der ewigen Nacht. Dass sie christliche Bastionen waren gegen das Grauen der Sinnlosigkeit. Und dass sie Schutz bieten sollten vor dem Unheil, das unter Tage lauerte. Vor allem wegen ständiger Wassereinbrüche fand jährlich einer von zehn Kumpeln den Tod. Noch schlimmer waren die „Büßer“ dran. Sie krochen mit Glimmstümpfen durch die Höhlen, um das Methangas abzufackeln, das sich am First sammelte. Von ihnen überlebte nur jeder Siebte. In einer der Kammern hat man den armen Teufeln ein Denkmal gesetzt. Natürlich aus Salz.

Im Raum nebenan umkreisen Pferdeattrappen eine der beinahe hausgroßen Aufzugspindeln, mit denen das Salz nach oben transportiert wurde. Mehr als hundert Tiere arbeiteten gleichzeitig in der von Talgfunzeln nur spärlich erhellten Düsternis. Das Tageslicht sahen sie nie. Weil die meisten Gäule bei ihrer Einfahrt in Hanfschaukeln vor Angst verendeten, behielt man die übrigen für den Rest ihres Lebens unten.

Gottesfürchtige Kunst und moderne Technik machten das heutige Weltkulturerbe Wieliczka schon im 17. Jahrhundert zum Ziel von Studienreisenden aus ganz Europa. „Bemerkenswert wie die ägyptischen Pyramiden, nur brauchbarer“, urteilte ein französischer Reisender 1647. Später stattete auch Goethe Wieliczka einen Besuch ab. 1790 kam er als Mitglied einer Delegation des Herzogs von Weimar. Seit ein paar Jahren bewacht er als Salzstatue die Weimar-Kammer. Sie ist so riesig, dass man glaubt, in einem entkernten Hochhaus zu stehen.

Ursprünglich hatten Holzschnitzereien die Saline geschmückt. Doch die immer wieder auftretenden Brände führten zum Verbot leicht entzündlicher Elemente. So entstand die Salzhauerei. 1698 feierten die Bergleute den ersten Gottesdienst in der ganz aus Salz geformten Antonius-Kapelle. Heute bietet sie einen traurigen Anblick. Feuchtigkeit aus den angrenzenden Sedimentschichten macht ihr allmählich den Garaus. Der Christus am Kreuz ist in sich zusammengeschrumpft und wirkt mit seinen spindeldürren Gliedern wie eine der morbiden Figuren von Giacometti. Die Gesichter der Säulenheiligen sind zerfressen, die Passionsszene sieht aus wie in schwarzem Schlamm gebadet. Alles schwitzt und tropft und stirbt. Dabei wurde vor Jahren eine Klimaanlage installiert, um die Luftfeuchtigkeit zu begrenzen. Doch sie fällt immer wieder aus.

Man tüftele gerade an einer neuen Technik, brummt Zbigniew Zarebski. Der Minendirektor empfängt mich in seinem mit Marienbildern und polnischen Flaggen dekorierten Büro, natürlich über der Erde. Er ist das, was man zu Goethes Zeiten ein stattliches Mannsbild genannt hätte. Breite Schultern, vertikale Stirnfalten, ein mit Hingabe getrimmtes Oberlippenbärtchen. Ohne ihn laufe hier nichts, heißt es in Wieliczka. Man glaubt es sofort. Zarebski ist einer jener viel beschäftigten Männer, die immer ein wenig zerstreut wirken und doch in jeder Sekunde hellwach sind. Man hat den Eindruck, dass er sich vom neuen Bewetterungssystem wenig erhofft. Noch mehr, sagt er, sorge ihn die Statik des Bergwerks. Nur radikale Verkleinerungen könnten es retten. Pro Jahr schütte man 70.000 Kubikmeter Hohlraum zu. Gerade einmal ein Zehntel der Kammern soll bleiben. „Billig ist das nicht“, sagt der Direktor und legt seine linke Hand auf das nervöse Fingergetrommel der rechten.

Die meisten todgeweihten Kammern liegen einige Hundert Meter abseits der Touristenstrecke. Zu ihnen fährt man in einem Aufzug, der rumpelt und klappert wie ein abenteuerliches Nachkriegs-Karussell. Er wird von jenen Arbeitern benutzt, die das perforierte Reich am Leben erhalten, indem sie nassen Sand in aufgegebene Kavernen pressen. Es sind polnische Archetypen ihrer Zunft mit fleischigen Nasen und buschigen Schnauzern. Zwischen ihnen fährt die Geologin von Wieliczka ein. Sie heißt Jadwiga Stecka und kombiniert Overall und Helm mit einem Make-up wie für einen Opernball. Sie will mir zeigen, was sie für den größten Schatz Wieliczkas hält.

Mit einem Knall setzt der Lift auf, und wir marschieren los. Jahrhundertealte Fackelspuren, Altäre und Gedenktafeln für Verschollene tauchen in den Lichtkegeln unserer Lampen auf. „Trotz Tausender Gefahren fährt der Bergmann jeden Tag unerschrocken in sein grausames Grab“, lautet eine der Inschriften. Immer wieder sehe ich Pfeiler, die zwischen Boden und Decke gerammt sind. Das seien die „Zeugen“, erklärt Jadwiga. Durch ihr Bersten warnen sie vor dem Druck der Erdmassen. Die meisten sind eingeknickt wie Streichhölzer. Dann sind wir am Ziel. Jadwiga öffnet ein plombiertes Tor, und wir stehen in einem Dom aus unzähligen kantigen Salzkristallen. In der Größe von Schuhkartons kleben sie an den Kuppeln. Es glitzert und funkelt wie in einem Märchenfilm. Jadwigas Schminke erscheint plötzlich sehr angemessen.

Wer mit Jadwiga durch die Schächte irrt, kann sich nicht vorstellen, dass die meisten Minenarbeiter länger lebten als ihre Kollegen über der Erde. Aber es stimmt. „Das Mikroklima“, erklärt Jolanta Czerwik. Sie ist eine der Ärztinnen des Sanatoriums, in dem auf der dritten Sohle Haut- und Atemwegserkrankungen geheilt werden. Es ist noch früh am Morgen, als die ersten Patienten eintreffen. Die meisten sind Kinder und tragen viel zu große Plastikhelme. Blass sind sie und still, und wenn eins von ihnen hustet, erschrickt man. Dann rasselt es aus ihnen heraus wie aus dem Hals eines kettenrauchenden Dragoners.

Damit die „Subterraneotherapie“ ideal wirken kann, werden die Kranken auf Trab gehalten. Immer wieder umrunden sie im Dauerlauf einen smaragdgrünen Salzsee, der für zusätzliche Aerosole sorgt. Andere plagen sich an Trimm-dich-Geräten, die aussehen wie Fossilien aus der Frühzeit der Leibesertüchtigung. Mehr als zwei Dritteln ihrer Schützlinge ginge es nach zwei Wochen besser, sagt die blonde Doktorin und bindet einem Mann ihr Blutdruckmessgerät um den Arm. Dabei leuchtet sie so vor Zuversicht, dass man meinen könnte, die Patienten genäsen vor allem an ihr.

Rund 450 Euro kostet ein zweiwöchiger Behandlungsturnus im Heilstollen. Doch im Vergleich zu dem, was Wieliczkas Eventmanagerin erwirtschaftet, ist das Sanatorium eine unbedeutende Einnahmequelle. Mittlerweile organisiert sie ein Viertel des Gesamtertrags der Mine, die sich zu einem veritablen Veranstaltungszentrum entwickelt hat. Kaum ein Tag vergeht ohne Spektakel.

In der hangargroßen Warschau-Kammer tragen die polnischen Bergmanngewerkschaften ihre Fußballturniere aus. Es gibt Silvesterfeiern, Casinoabende und Konzerte. Mannequins stöckeln über Laufstege, und jährlich tagt im Salz ein Chirurgenkongress. Geheiratet wird auch. Für 550 Euro Miete pro Stunde kann man sich in der Kinga-Kapelle trauen lassen.

Der Philosoph Marek findet nichts Seltsames an den Partys unter Tage. Er hat gerade eine Führung hinter sich und sitzt nun 135 Meter tief im Restaurant bei Pilzpiroggen und Bier. Die salzhaltige Luft habe nämlich einen großen Vorteil, verrät er und hebt die Brauen. „Man bekommt hier keinen Kater.“ Also dann, Marek. Worauf wollen wir trinken? „Auf Barbara, die Patronin der Bergleute“, empfiehlt der Mann in Schwarz und reckt sein Glas. Einverstanden. Auf Barbara. Und auf das Licht dort oben.