Urwaldtohuwabohu
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Urwaldtohuwabohu

DIE ZEIT, Nr. 3/2014

Urwaldtohuwabohu

 

Der Archipel Solentiname ist ein weltvergessener Garten Eden im Nicaraguasee. Ernesto Cardenal widmete ihm einst ein „Evangelium“. Heute wird um sein Erbe gestritten.

Erst höre ich einen. Später zwei. Dann vier, acht, zwölf. Und immer, wenn ich denke, jetzt kenne ich sie alle, entdecke ich den nächsten neuen Vogelton. Noch vor der Morgendämmerung pfeift und ruft und keckert es aus unzähligen Schnäbeln. Was die hervorbringen, klingt so kunstvoll, als hinge der Urwald ringsum voller Notenblätter – das ist kein Gezwitscher mehr, das ist eine Sinfonie. Ich bin längst überzeugt: Wenn es eine Paradiesmusik gibt, dann muss es sich dabei um dieses oszillierende Brausen handeln, auf dessen Wogen ich in den Tag gleite.

Nirgendwo in Nicaragua leben mehr Vogelarten als auf dem Archipel von Solentiname. Wäre man selbst ein Vogel, man würde sich gleich einreihen wollen: Weltverlorener als die 36 dampfenden Dschungelinseln ganz im Süden des Nicaraguasees kann nichts liegen. Ich befinde mich auf der Hauptinsel Mancarrón, die zu den vier Eilanden gehört, die dauerhaft bewohnt sind. Krokodilrückenartig ragt sie aus dem trüben See, der auf der Landkarte wirkt wie ein Bauchnabelpiercing an der schmalen Taille zwischen Nord- und Südamerika. 15-mal würde der Bodensee in ihn hineinpassen – damit ist der Nicaraguasee das zweitgrößte Binnengewässer zwischen Mexiko und Feuerland.

Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Rollos fallen, schraffieren sie die Wände meines mönchszellenhaften Zimmers. Seine Schlichtheit ist im Grunde wie geschaffen für das kontemplative Vogelkonzerterlebnis. Doch mittendrin stechen auch ein paar merkwürdig grelle Clownerien ins Auge. Auf dem Nachttisch stehen zwei kreischbunte Tukane. Das Handtuch hält ein lustiges Krokodil. Und am Zimmerschlüssel hängt eine grüngelbe Schildkröte.

Die Figuren sind aus Balsaholz geschnitzt und finden sich überall im Hotel Mancarrón, dessen weiße Häuser sich im Dickicht verstecken. Auch im Speisesaal schwankt ein Mobile aus Schmetterlingen in der feuchtheißen Brise, als mir Nubia das Frühstück bringt. Die Mittfünfzigerin ist die Inhaberin des Hotels. Jede ihrer Bewegungen wirkt seltsam kontrolliert, sogar ihr Lächeln ist von Ernst durchdrungen. Ob es mit ihrer Vergangenheit zu tun hat? Nubia Arcia hat nämlich Geschichte geschrieben. Als Sandinistin der ersten Stunde ist sie in der Nacht vom 12. auf den 13. Oktober 1977 mit anderen Revolutionären von hier aus nach San Carlos auf das Festland gerudert. Dort führte sie einen Überfall auf eine Kaserne der Nationalgarde des Somoza-Clans an, der Nicaragua fast 43 Jahre lang tyrannisiert hatte. „Unser Angriff war erfolgreich, und er war der Beweis dafür, dass wir eine Chance hatten gegen das Militär. Ohne dieses Fanal hätte es den Aufstand nie gegeben“, sagt Nubia und gießt vorsichtig Kaffee nach.

Ein Krokodil sperrt sein Maul auf, als wolle es seinen Rachen lüften

Die Attacke führte zu einem Vergeltungsschlag des Militärs auf den Inseln, machte Solentiname aber auch zu einer Keimzelle der sandinistischen Revolution, die zwei Jahre später siegreich war: Die Diktatorenfamilie floh, die Sozialisten übernahmen die Macht. Eine Schlüsselrolle spielte dabei Ernesto Cardenal. Der Lyriker, ehemalige Priester und spätere Kulturminister Nicaraguas hatte in den sechziger Jahren auf Solentiname eine christliche Gemeinschaft gegründet und mit den Einheimischen Gespräche über die Bibel initiiert. Mitschriften der Auslegungen veröffentlichte Cardenal 1975 als Das Evangelium der Bauern von Solentiname. Während der Entstehung dieses grundlegenden Werkes der Befreiungstheologie entdeckte Cardenal selbst die politische Bedeutung des Neuen Testaments, rief zum Kampf auf und ebnete so der Revolution den Weg. Gleichzeitig ließ er die Inselbewohner in naiver Malerei und Schnitzkunst schulen und machte ihre Arbeiten später in der Welt bekannt.

Bis heute widmet sich fast jeder zweite der knapp 1.000 Einwohner des Archipels dem Kunsthandwerk. Dass auf Mancarrón vor allem geschnitzt wird, hat mit Nubia zu tun: Sie und ihr deutscher Ehemann unterstützen die Produktion und den Absatz der quietschbunten Holzfiguren, die je nach Gemütslage pfiffig oder albern wirken. Woher stammen die Motive? „Schau dich um, dann verstehst du“, sagt Nubia und ruft nach Martín. Kurz darauf erscheint das Hotelfaktotum, um mich zu begleiten: ein immerzu lächelnder junger Mann von umständlicher Höflichkeit. Seine Füße stecken in Gummistiefeln, in der rechten Hand blitzt eine Machete.

Es sind nur ein paar Schritte, bis uns der Dschungel verschluckt. Waldbananenstauden stehen im schwitzenden Grün, stachelige Coyol-Palmen sehen aus, als habe der Nagelkünstler Günther Uecker sich hier ausgetobt. Irgendwann schabt Martín an moosigen Steinen herum und legt Gravuren von Spiralen und Avatargesichtern frei. Die Zeichen sind bis zu 1.500 Jahre alt und stammen von den Nahuas, den Ureinwohnern Solentinames. Was sie bedeuten, weiß keiner genau. Je länger wir gehen, desto lebendiger wird es. Schmetterlingswolken stieben auf, Brüllaffen pöbeln im Geäst, ein Reiher nach dem anderen schwingt sich in die Luft. Nur die Tukane mit ihren absurden Riesenschnäbeln bleiben sitzen. Sie sind von ihren Holzbrüdern in meinem Zimmer kaum zu unterscheiden. Dann führt der Pfad am Ufer entlang, wo ein Krokodil sein Maul aufsperrt, als wolle es seinen Rachen lüften. Und gleich ein Stück weiter sehe ich eine Kaiserboa im braun gescheckten Camouflagelook unter Orchideen dösen. Als Martín meinen bangen Blick bemerkt, beruhigt er mich: „Die tun uns nichts. Hier gibt es doch alles in Hülle und Fülle.“ Bestimmt hat er recht. Solentiname wirkt tatsächlich wie eine Welt vor dem Sündenfall – jedenfalls solange es einem gelingt, die politische Geschichte des Archipels aus dem Blick zu verlieren. Aber soll man es überhaupt darauf anlegen? Immerhin: Kaum etwas entspricht der unschuldigen Schöpfungsidylle besser als die frohgemuten Holzfiguren, die die ehemalige Kämpferin Nubia vertreibt.

Der Archipel ist auch berühmt für seine naive Malerei

Deren Herstellung ist in vollem Gang, als wir ins Dorf zurückkehren. Links und rechts verzweigter Pfade sitzen Menschen auf den Veranden ihrer Holzhäuser und schnitzen, schmirgeln und pinseln wie besessen an der Nachbildung von Solentinames kreatürlicher Üppigkeit herum. Dahinter ragen die schlanken Balsaholzbäume auf, die schon nach zwei Jahren gefällt und zu neuen Fröschen, Vögeln, Fischen oder Krokodilen verarbeitet werden. Überall liegen die Resultate auf Verkaufstischen aus. Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen. Leise Enttäuschung macht sich breit. Da flieht man vor dem Universalgeschmack der globalisierten Welt in einen ihrer hintersten Winkel und erlebt dort dieselbe Serienproduktion.

Wer soll das eigentlich alles kaufen? Es ist Regenzeit, ich bin der einzige Fremde hier. José schüttelt den Kopf über meine Kurzsichtigkeit. Er handele auch auf Messen in Managua und beliefere das Tourismusministerium, sagt er stolz. Der halb nackte Mann mit dem paukenförmigen Bauch prügelt gerade einen Rohling aus einem Holzblock. Seine Kinder werden ihn später zu einer Schildkröte verarbeiten. 800 Stücke stellt seine fünfköpfige Familie im Monat her.

Wie man damit Geschäfte macht, hat ihm Immanuel Zerger beigebracht. Der grau melierte Herr in Funktionsklamotten ist Nubias Ehemann. Eben ist er gekommen, um eine Ladung Engel zu inspizieren, die er bei José bestellt hat. Engel? „Produktdifferenzierung“, sagt er und grinst. In den frühen achtziger Jahren landete der Allgäuer als „Sandalista“ in Mittelamerika. So wurden wegen ihres Schuhwerks die Angehörigen weltweiter Solidaritätskomitees genannt, die beim Aufbau eines neuen Nicaragua halfen. Heute veranstaltet der frühere Zweite Vorsitzende der Evangelischen Jugend Bayerns Kurse für die Schnitzer und einiges mehr auf Solentiname. Zum Beispiel einen Wettbewerb um das schönste Haus, den José mit seinem holzverschalten Heim gewonnen hat. „So besinnen sich die Menschen auf ihre Heimat und leben nachhaltig“, sagt Immanuel Zerger im schönsten Kirchentagssprech. Auch ihm selbst kommt nebenbei ein hübscheres Dorf zupass: Zerger betreibt in der Hauptstadt ein Reiseunternehmen, mit dem er Touristen nach Solentiname bringt.

Das einzige Gebäude, das mit Josés Haus konkurrieren kann, ist die verrammelte Kirche, die zwischen dem Hotel Mancarrón und dem Hauptanlegesteg liegt. Der Riegel mit den zuckerstangenbunt bemalten Fliegengittern wirkt, als habe ein Riesenkind seinen Zauberwürfel verloren. Zu Zeiten von Ernesto Cardenal, der heute, 88-jährig, in Managua lebt, wurde das Gotteshaus wiederaufgebaut. Von seinem Portal sind es nur ein paar Schritte bis zur öffentlichen Bibliothek des Poeten, in der man sein Werk zwischen Schriften von Marx, Lenin und Kim Il Sung findet. Ein Porträt zeigt Cardenals berühmtes Konterfei aus Zuckerwattebart, Baskenmütze und leidendem Blick zum Himmel. Gleich daneben hängt Fidel Castro. Doch mehr als die Gegenwart kommunistischer Saurier wundert mich, dass ich überhaupt in der Bibliothek stehe. Als ich nämlich Immanuel Zerger danach fragte, wurde er schmallippig und sagte, die gäbe es nicht mehr. Auch Nubia Arcias Blick hatte sich am Morgen versteinert, sobald ich Cardenal erwähnte.

Ich ahne, was los ist, als ich auf Plakate stoße, die man an Bäume genagelt hat. „Sie haben uns das Hotel Mancarrón gestohlen. Unterstützt keine Diebe!“ lautet die Überschrift über einem Text, der Nubia und Immanuel in drei Sprachen zu Verbrechern stempelt und von Cardenal unterschrieben ist. Der Streit um das Hotel, das ursprünglich eine von deutschen Gewerkschaften gestiftete und von Nubia geleitete Bauernschule war, wurzelt im Jahr 1993. Damals starb Nubias erster Mann bei einem Autounfall, und sie stand plötzlich mit fünf Kindern alleine da. Cardenals „Verein zur Entwicklung von Solentiname“, dem große Teile des Archipels gehören, half, indem er das Hotel an die Witwe verpachtete. Die will es nun nicht mehr hergeben, weil sie viel eigenes Geld in die Renovierung stecken musste. Prozess folgte auf Prozess, die Eheleute Arcia und Zerger gewannen alle. Für Cardenal aber belegen die Siege nur die Korruptheit der amtierenden sandinistischen Regierung, mit der er sich längst überworfen hat. Es sieht so aus, als sei die Schlammschlacht noch lange nicht zu Ende.

Kein lokaler Künstler sei zu Geld gekommen, beklagt die Tochter

Der Streit hat die intrigante Qualität einer Seifenoper, aber man kann nicht sagen, dass er die Einwohner amüsiere. Vielmehr sät er Zwietracht auf dem gesamten Archipel. Wie sehr, spüre ich abends bei Bier und gebratenen Bananen in der Freiluftkneipe, wo Echsen an den Wänden kleben und Vögel im Schwippgang herumstolzieren. Hin und wieder knistern gedehnte Donnerschläge durch die Nacht, Zikaden zirpen in höchsten Tonhöhen, und die Frösche im Gebüsch klingen, als ploppten unentwegt Steine in einen Tümpel. Trotz des Dschungelgedröhns senkt jeder seine Stimme, wenn er nach dem Inselzoff gefragt wird. Cardenal sei ein Wohltäter und Urheber der Kunst auf Solentiname, raunen seine Anhänger. Völliger Humbug, hält Nubias Fraktion dagegen: Als Spross einer der wenigen großen, Nicaragua dominierenden Familien habe er die Insulaner immer nur benutzt und sie in Patriarchenmanier kleingehalten. Nubia und Immanuel dagegen hülfen den Bewohnern, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und die Kunst ordentlich zu vermarkten.

Wer hier von Kunst spricht, meint nicht nur die Tierskulpturen von Mancarrón. Der Archipel ist auch berühmt für seine naive Malerei. Ihr ältester Vertreter heißt Rodolfo Arellano und lebt auf der Insel La Venada. Wolkentürme machen den Himmel zu einem gewaltigen Kuppelfresko, als ich anderntags übersetze. Bei meiner papageienumkreischten Ankunft stupst der 74-Jährige gerade mit einer langen Stange Kokosnüsse von einer Palme, die nicht viel dünner ist als er selbst. Dann folge ich dem Mann mit dem freundlich verwitterten Gesicht zu einer Bretterkate, in der seine Bilder entstehen. Jedes Gemälde ist ein überbordendes, von Schmetterlingen und Blumen verbuntetes Urwaldtohuwabohu aus unzähligen Grüntönen, jedes Motiv ein Wimmelbild voller Vögel, Brüllaffen, Tapire und Schlangen in beinahe schmerzhaft grellen Acrylfarben. „Solentiname“, sagt Rodolfo nur, als er von seinen Bildern erzählen soll, die wirken wie Katalogisierungen der Natur. Dann lächelt er in jener sonderbaren Mischung aus Schüchternheit und Selbstbewusstsein, der man hier auffallend oft begegnet. Seine Tochter Silvia dagegen, Dschungelmalerin wie ihr Vater, schaut grimmig drein und beklagt, dass kein lokaler Künstler bisher zu Geld gekommen sei. „Und das, obwohl Cardenal unsere Arbeiten überall bekannt gemacht hat. Da stimmt doch etwas nicht!“ Ihr Vater lächelt weiter. Er nimmt sein karges, abgeschiedenes Bauern- und Künstlerleben hin wie die Sonne und den Regen.

An meinem letzten Nachmittag sitze ich auf dem Anlegesteg von Mancarrón und starre über den See. Er liegt da wie Blei. Plötzlich taumelt ein handflächengroßer Morphofalter durch die Luft und setzt sich auf mein Knie. Das Insekt hat leuchtend blaue Flügel und ist von verstörender Schönheit. Das reinste Fabelwesen. Doch sein Sehnsuchtsblau trügt. Es entsteht nicht durch Pigmente, sondern durch einen Trick: Besondere Schuppen auf den Flügeln reflektieren das Licht und lassen den Schmetterling lediglich blau erscheinen – in Wahrheit ist er farblos. Ich muss an die Inselgruppe denken. Sie wirkt auf den ersten Blick wie ein Garten Eden. Doch auch das stellt sich als schöne Illusion heraus. Solentiname, so viel steht fest, ist nur ein irdischer Ort.