21 Feb. Der Baum, der dem Tod trotzt
FAZ, 2024
Der Baum, der dem Tod trotzt
Entlang des Radwegs Via Verde del Aceite in Andalusien erstreckt sich der größte Olivenhain der Erde. Wer die Strecke gefahren ist, lernt nicht nur Demut, sondern liest die Etiketten von Olivenölflaschen künftig auch viel aufmerksamer.
Im Buch der Richter des Alten Testaments ziehen die Bäume los, um sich einen König zu suchen. Als ersten fragen sie den Olivenbaum. Doch der lehnt ab, ohne zu zögern: „Soll ich etwa meine Fettigkeit lassen, die Götter und Menschen an mir preisen, und hingehen, über den Bäumen zu schweben?“. Auch der Feigenbaum und der Weinstock wollen die Rolle nicht übernehmen. Am Schluss ist es ausgerechnet der sterile, unnütze Dornbusch, der sich geschmeichelt fühlt und zum König salben lässt.
Wer mit dem Fahrrad durch den größten Olivenhain der Welt fährt, bekommt die biblische Demut des Ölbaums nicht zu fassen. Bringt sie nicht zusammen mit dem stolzen Heer der Pflanzungen bis an den Horizont. Ihre Reihen verlaufen mal längs, mal quer, mal treffen sie im spitzen Winkel aufeinander. Sie steigen ab in Senken, klettern über Höhen, verpuffen irgendwann als feinste Strichellinien in der Ferne. In ihrer Akkuratesse wirken sie wie eine römische Schlachtordnung und lassen die Überzeugung reifen, dass sich in Europa keine Monokultur kunstvoller präsentiert als diese hier. Erleben kann man sie auf dem Rad- und Wanderweg der Via Verde del Aceite in Andalusien. Der „Grüne Weg des Olivenöls“ bietet einen Logenblick auf die Schönheit der knapp 200 Millionen Olivenbäume der Region. Dass Spanien allein fast die Hälfte des Weltmarkts mit Olivenöl versorgt, liegt vor allem an diesen gigantischen Plantagen – in Andalusien erntet die Nummer eins 80 Prozent der Früchte.
Die Strecke ist die zweitlängste von vielen Dutzend Via Verdes in Spanien, die insgesamt auf 3300 Kilometer angewachsen sind: stillgelegte Eisenbahntrassen, deren Geschäft längst Lastwagen übernommen haben. Die Olivenölbahn beförderte von 1893 an neben Kohle aus den Minen von Linares vor allem Olivenöl. Nach ihrem Aus Mitte der achtziger Jahre wurden die Gleise entfernt, Geländer gebaut, Schilder aufgestellt und Stationen eingerichtet, die Fahrräder vermieten und Gepäck transportieren. Seit 2003 kommt man per Velo in zwei oder drei Tagen von Puente Genil in der Provinz Córdoba in das 120 Kilometer entfernte Jaén, die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz. Wer in Puente Genil beginnt, fährt meist leicht bergauf. Aber das ist kaum zu spüren: Die Route orientiert sich nicht nur an der Willkür der Landschaft, sondern auch an der Schwäche der damaligen Lokomotiven, die mehr als vier Prozent Steigung nicht bewältigen konnten. Einen Olivenzweig – die Goldmedaille der Olympischen Spiele in der Antike – kann man sich hier kaum verdienen.
Hungrig macht eher das Schauen und Staunen. Wenn der Wind die Zweige der Bäume in Rage bringt, umgibt sie ein irisierendes Gleißen. Es rührt daher, dass die lanzettartigen Blätter eine dunkelgrün-ledrige Oberfläche mit einer silbrigen Unterseite kombinieren und das Licht dadurch geheimnisvoll changiert. Maler wie Vincent van Gogh trieb dieser Effekt zur Verzweiflung. „Ich gebe mir große Mühe das einzufangen,“ schrieb er ein Jahr vor seinem Tod an seinen Bruder Theo. „Es ist ein Silber, manchmal eher blau, dann wieder grünlich, bronzefarben, weiß schimmernd auf einem rosa Grund, ins Violette neigend, ins Orange übergehend, bis zum roten Ocker. Aber sehr schwierig, sehr schwierig.“
Gut, dass der Radtourist nur pedalieren muss, bis er irgendwann zur Stärkung in eine der Ortschaften rollt. 30 Kilometer hinter Puente Genil ist etwa Lucena erreicht, wo auf der Plaza Nueva Señoras mit eisgrauen Haarsprayfrisuren palavern und sich alte Männer ruhigen Blicks auf ihre Stöcke stützen. Drumherum prunkt im stilistischen Amalgam der Mudéjar-Kirchen der ornamentale Überschwang aus Gotik, Romanik, Renaissance und maurischer Baukunst. Die wahren Paradiese aber eröffnen sich unter den Schinkenhimmeln von Lucenas Tapas-Bars, in denen mit Olivenöl nicht gegeizt wird. Der spanische Lebenssaft dominiert dort Speisen wie garbancos con espinacas, Kichererbsen mit Spinat, oder ajoatao, ein kaltes Knoblauch-Kartoffelpüree mit Zitrone in einem See aus Öl. Die deftigen migas aus zerkrümeltem Brot, Tomaten, Knoblauch und Chorizo fordern ebenso seinen beherzten Einsatz wie der salmorejo cordobés, der puristische, ungleich sämigere Bruder der gazpacho andaluz. Wer es noch fettiger mag, bestellt sich recluta, den Rekruten: ein zerknautschtes Brötchen wird in Olivenöl ertränkt und mit Tomatenscheiben und Anchovis belegt. Nur Hartgesottene ölen dann noch nach – auf den Tischen steht dafür eine Auswahl unterschiedlicher Sorten.
So wie die christlichen Baumeister das arabische Erbe nach der Reconquista in die neue Zeit integrierten, ist auch die andalusische Küche eine Art Mudéjar-Phänomen, ein kulinarischer Hybrid, der die Einflüsse aus Orient und Okzident zusammenrührt. Für die Macht des spanischen Olivenöls sind die maurischen Einflüsse allerdings kaum weniger ausschlaggebend. Zwar etablierten die Phönizier schon 1050 vor Christus den Olivenbaum am iberischen Mittelmeer, bezogen bereits die Römer aus der Provinz Hispania das meiste Olivenöl; doch erst die Araber perfektionierten die Anbaumethoden, dynamisierten den Handel, brachten die Baumreihen in Reih und Glied. Während die Olive überall nach dem lateinischen oliva benannt ist, heißt sie hier aceituna vom Arabischen al-zaytun.
Hinter Cabra rückt die Via Verde del Aceite dicht an die Berge der Sierra Subbética heran. Die Strecke windet sich nun in epischen Kurven, es ist, als führe man auf Skiern über den summenden Schotter. Tortengusshaft geschichtete Kalksteinformationen kommen in den Blick, für manche von ihnen scheinen die Gesetzte der Schwerkraft nicht zu gelten. Gen Norden hin recken vereinzelte Steineichen ihre wie in Krämpfen verrenkten Äste in die Höhe. Gegen Abend, wenn das harte Keramikblau des Himmels einem rosa Glimmen weicht, wirken ihre erstarrten Gesten noch flehentlicher.
Irgendwann taucht das Engstgeschachtel von Zuheros auf, ein wie aus weißen Kartons zusammengebautes Dorf, das dank der kühnen Hanglage seine Konturen bewahrt hat. Schöner kann man mit der Landschaft gar nicht zu einem Bild zusammenwachsen. Wer hier im Apartment-Hotel Los Castillarejos gebucht hat, thront zudem über einem jähen Felssturz und genießt den Terrassenblick in eine fast surreal ausschwingende Weite. Erst wenn im Himmel die Fledermäuse zu zickzacken beginnen, schafft man es, sich von ihm zu lösen. Die monumentale Leere macht offenbar, dass man sich in einer klassischen Auswanderergegend befindet. Als analphabetischen Landstrich beschrieb sie Antonio Machado. Junge Menschen ziehen weg, im August feiert man hier Emigrantenfeste, wenn die verlorenen Söhne und Töchter zu Besuch kommen.
Carmen Arroyo ist geblieben. Sie arbeitet für den Consejo Regulador de la Denominación de Origen Baena, eine Regulierungsbehörde, die über die Ölmühlen der acht umgebenden Gemeinden wacht. Die Mittzwanzigerin ist mit Präsentationsmaterial angerückt, um den Gästen das Halleluja des Olivenöls zu singen, das schon unzählige Ernährungsratgeber füllt: Olivenöl senkt das schädliche LDL-Cholesterin, stabilisiert den Blutdruck, hat entzündungshemmende Eigenschaften, erhöht die Abwehrkräfte, beugt Krebserkrankungen vor. Das Image könnte angesagter gar nicht sein. Es spielt dem aufkeimenden Olivenöltourismus in die Hände, dessen Rückgrat die Via Verde del Aceite ist. Entlang der Route kann man Mühlen besuchen, bei der Ernte helfen, Verkostungen machen, sein eigenes Produkt herstellen, kurz: einer verarmten Region unter die Arme greifen.
Bevor die Sache zu sehr in Olivenölkitsch abdriftet, verteilt Frau Arroyo Becherchen. Aus ihnen lässt sie erst ein raffiniertes Öl probieren, das durch seine Erhitzung und den Einsatz von Chemikalien keinerlei Geschmack und Geruch besitzt und jeglichen Nährwert eingebüßt hat. Als zweites ist ein köstliches virgen extra aus erster Kaltpressung dran. Schließlich kippt man auf Geheiß nur ein paar Tropfen des virgen extra ins raffinierte Nichts, schüttelt es, nippt daran – und ist bass erstaunt. Es schmeckt nun fast wie ein teures kaltgepresstes Öl mit allen gesundheitsfördernden Eigenschaften. „So einfach ist es, Olivenöle zu panschen“, sagt die Dame im cremefarbenen Hosenanzug. „Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal ein virgen extra für unter zehn Euro sehen. Das ist reiner Etikettenschwindel.“
Anderntags kommt eher in den Sinn, dass gutes Olivenöl den Serotoninspiegel im Gehirn erhöhen und damit ein bisschen wie ein Antidepressivum wirken kann. Oder ist es wieder dieses psychedelische, sich endlos reproduzierende Rasterbild von einer Landschaft, das so beschwingt? In den Feldern bröckeln Fincas vor sich hin und erwecken den Eindruck, als seien sie es, die von den zahllosen Olivenbäumen in Pflege genommen würden, nicht umgekehrt. Vollends Ruinen sind mittlerweile die winzigen Häuschen der einstigen Bahnstreckenwärter. Eremitengleich versorgten sie sich selbst mit einem kleinen Gemüsebeet und eigenem Brunnen. Wie deren Wiedergänger wirken da die etwas verlotterten Sammler von wildem Spargel, die zuweilen die Via Verde del Aceite mit grünen Bündeln unterm Arm kreuzen. Sie grüßen mürrisch, als wollten sie ihre Geheimplätze nicht verraten – und verschwinden dann abrupt im Hain. In Kriegsromanen würden diese Szenen mit dem Satz enden: „Wir sahen sie nie wieder.“
Manche Täler laden tatsächlich zum restlosen Verschwinden ein. Eins ist das des Rio Guadajoz, der als Grenzfluss die Provinzen Córdoba und Jaén voneinander trennt. Man überquert ihn auf einem der 13 grünspangrünen Viadukte aus dem 19. Jahrhundert entlang der Via Verde del Aceite. Sie entspringen der Schule von Gustave Eiffel und wirken so emblematisch, als seien sie extra für Landschaftsmaler in die Hügel gestellt worden. Auf ihren eisernen Storchenbeinen watet die Brücke jedoch längst nicht mehr durch Wasser – das Bett des Rio Guadajoz ist ganzjährig mit Staub gefüllt. Auch die Laguna Honda ein Stück weiter ist leer.
„So trocken wie in den vergangenen Jahren war es hier noch nie“, sagt Ignacio Gálvez im flaschengrünen Overall. Er ist einer von zwei Männern, die sich um die 55 Wegkilometer in der Provinz Jaén kümmern und die Via Verde del Aceite dafür mit priesterlicher Langsamkeit im Geländewagen abfahren. Früher war Ignacio Olivenbauer, aber das lohnte sich für kleine Betriebe wie den seinen immer weniger. „Vor allem durch die Dürre haben sich die Preise für Olivenöl unlängst vervierfacht. Banden klauen es mittlerweile im Supermarkt. Und die Guardia Civil beschlagnahmt regelmäßig tausende Liter von Fälschungen, die nie als virgen extra verkauft werden dürften“, sagt er. Dabei ist der Olivenbaum äußerst bescheiden. Auf satte Böden legt er keinen Wert, das Karge, Kalkhaltige, Steinige reicht ihm ganz und gar. Aber brutale Hitze, harte Fröste und vor allem die schiere Trockenheit – die sind ihm als Baum der Mitte dann doch zu viel.
Muss man sich also Sorgen machen? Vielleicht nicht. Als die Essenz von Klima und Kultur des Mittelmeerraums trug der Ölbaum in seiner Geschichte zur Ernährung, Medizin, Kosmetik und Beleuchtung ganzer Zivilisationen bei, spielte eine Rolle in Religion, Kunst, Politik und Sport. Ganz besonders aber imponiert er seit 6000 Jahren als Überlebenskünstler. Aufgrund seiner vitalen, im Vergleich zum Stamm bis zu fünfmal dickeren Basis kann ein altes Exemplar, das durch Frost, Brände oder Abholzung unrettbar verloren scheint, wie durch ein Wunder neue Triebe ausbilden. Eine sonderbare Art der Selbstzeugung, die auf den notorischen Todesanwärter Mensch schon immer Eindruck machte und den Olivenbaum in vielen Mittelmeerkulturen in göttliche Sphären erhob.
Beim intensiven Anbau entlang des Radwegs werden die Bäume soldatisch gestutzt, damit sie maschinell geerntet werden können. Wer richtige Veteranen sehen will, biegt auf der Höhe von Martos ab und radelt zu einem Feld namens Llano de Motril. Dort gibt es Bäume, von denen die meisten schon standen, als Kolumbus Amerika entdeckte. Trotzdem tragen sie immer noch Früchte. Fast will man ihnen etwas zuflüstern in der Hoffnung, dass sie antworten. Sie könnten dann etwa vom Spanischen Bürgerkrieg erzählen, als sich die Marteños unter ihren Kronen vor den Bombern Francos versteckten. Dass die Methusalems wie alte, vom Leben gezeichnete Männer wirken, liegt an ihren unregelmäßig geformten und von tiefen Furchen durchzogenen Stämmen – schnurförmige, unabhängige vaskuläre Systeme, die jeden Ast mit einer entsprechenden Wurzel verbinden. Sie schenken dem sonst eher prosaisch aussehenden Baum mit den Jahrhunderten eine einzigartige bildhauerische Schönheit.
In keiner Gemeinde des Planeten werden so viele Oliven geerntet und verarbeitet wie in der 20.000-Einwohner-Stadt Martos. Auf Verkehrsinseln stehen Denkmäler zu Ehren der Plackerei, und sie sind so hässlich wie alle gutgemeinten Werke. Trotzdem: Wo sonst sollte man eine Ölmühle besichtigen? Die Kooperative San Amador ist außerhalb der Erntezeit jedoch schnell durchlaufen und erklärt. Die Oliven werden gesäubert und mit Kernen zu einer Paste zermahlen. Anschließend trennen nicht mehr traditionelle Pressen das noch trübe Öl vom Fruchtwasser, sondern moderne Zentrifugen, die es extrahieren, vor Sauerstoff schützen und so die Oxidation verhindern. Dieses Verfahren und der Einsatz von Temperaturen unter 27 Grad erhält die gesunden Biophenole, die vor allem in früh geernteten und dann binnen Tagesfrist in die Mühlen gelieferten Früchten stecken.
Bis zu zwei Jahre lagert das Öl in chromblitzenden Tanks, die nur auf Bestellung angezapft werden und so futuristisch wirken, als hätte sie Philipe Starck entworfen. Zwischen ihnen erinnert eine Ölverkostung erst recht an den Elitismus eines Wein-Tastings. Anbauregion, Olivensorte, Witterung, Erntezeitpunkt, Methode des Pressens und Art der Lagerung – alles das ergibt ein Sudoku für Nase und Gaumen, das mit viel Sommelierslyrik zur Sprache gebracht wird. Die scharfe Picual, die fruchtige Arbequina, die grasige Hojiblanca sind gut zu unterscheiden. Aber das Aroma von Bananen, Trüffeln, Artischocken, Nelken? Die Nuancen von Minze, Avocado, Eukalyptus und Schokolade, von denen hier die Rede ist? Da braucht es Übung. Nie fehlen dürfen aber die markigen Bitternoten, die im Rachen einen kleinen Hustenreiz heraufbeschwören. Sie verweisen auf die Biophenole, deren Aufgabe es ist, die Olive vor herbivoren Fressfeinden zu schützen – und später den Aficionado vor freien Radikalen.
In der Kooperative San Amador ist man jedenfalls überzeugt, dass dem andalusischen Olivenöl jetzt endgültig der Aufstieg zum Premiumprodukt gelingen wird. Die Italiener, die riesige Mengen spanischen Öls kaufen und in ihre Erzeugnisse mischen, hätten das dank cleveren Marketings ja auch geschafft. Und mal ehrlich: Sei nicht auch der Wein bis vor drei oder vier Jahrzehnten fast überall noch eine ziemliche Plörre gewesen? Über das neuerdings kapriziöse Flaschendesign und die cocktailbarcoolen Verkaufsräume wundert man sich jetzt immerhin nicht mehr.
Von Martos nach Jaén fährt man nur noch eine gute Stunde. Am Schluss vergleichgültigt sich die Landschaft und räumt Gewerbegebieten das Feld. Dann erheben sich ein letztes Mal die obligatorischen Wehrtürme einer ehemals maurischen Burg vor dem Lenker: die nichts als kantige Anlage von Santa Catalina. Wie die Kommandozentrale eines Filmbösewichts wacht sie im gebieterischen Gestus über der Provinzhauptstadt. Es ist der Moment, in dem einem wieder das Alte Testament und der Verzicht des Olivenbaums auf die angebotene Krone einfallen kann. Denn so viel hat man nun begriffen: Seine Weigerung zu herrschen kündet nicht von Demut, sondern vom Selbstbewusstsein eines wahren Urbaums, der sein eigener König ist.