Der Wald ist des Menschen Meister
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Der Wald ist des Menschen Meister

FAZ, 2024

Der Wald ist des Menschen Meister

Survivaltrainings boomen auch in Deutschland, obwohl raue Natur hier Mangelware ist. Mit der richtigen Einstellung findet man sie jedoch gleich um die Ecke. Ein lehrreiches Wildniswochenende in der gar nicht mehr idyllischen Eifel.

Die große Freiheit des Waldes hatte ich im Sinn, ein verwegenes, über die Natur triumphierendes Selbst-ist-der-Mann-Gefühl. Doch jetzt knie ich auf dem Boden und bin der Sklave dieses selbst geschnitzten Feuerbohrers, der alles macht, nur kein Feuer. Den Mechanismus aus Bogen, Spindel, Handhalter und Zunder hielt ich für eine Art Kinderspiel. Welch ein Irrtum. Er ist die Widerspenstigkeit selbst. Holz reibt an Holz und quietscht wie Kreide auf einer Schiefertafel. Dann hakt die Schnur, verkantet der Bogen, bläst Wind den Abrieb weg. Der raucht zwar irgendwann verheißungsvoll. Aber die zerbröselte Birkenrinde will er einfach nicht entzünden. Dafür schmerzt der Rücken, lahmt der Arm, brennt der Schweiß in den Augen. Und das Mindset, von dem hier ständig die Rede ist, liegt längst in Trümmern. Doch eins nach dem anderen.

Den Ausschlag für mein Survival-Wochenende in der Eifel gab eine Anekdote aus der Bielefelder Kindheit von Rüdiger Nehberg. Der berühmteste deutsche Abenteurer machte sich als Vierjähriger allein auf den Weg zu seiner Großmutter – er wollte von ihrem Dörrobst naschen. Doch der Knirps verlief sich prompt in einem Park. Zwei Tage später fand man ihn unter Zeitungen aus einem Abfalleimer. Es war Nehbergs erster Survival-Trick. So, so, dachte ich mir. Das viel belächelte Bielefeld taugt zur Initiation eines der größten Überlebenskünstler. Dann braucht es vielleicht gar kein Kanada, Alaska, Schweden, wo jene angesagten Survival-Reality-Shows spielen, die auf Streamingdiensten Millionen Zuschauer anziehen und den eher gediegenen Outdoortrend verdrängt haben. Dann ist die Eifel für einen Survival-Novizen wie mich womöglich wild genug.

Stattfinden soll meine Auswilderung beim Veranstalter „Wildnistraining“, bei dem ich den dreitägigen Basis-Kurs gebucht habe. Wie macht man Feuer? Welche Pflanzen sind essbar? Wie baue ich eine Schutzhütte im Wald? Solche Dinge stehen auf dem Programm. Das Camp liegt nahe Dahlem im Deutsch-Belgischen Naturpark, wo die endzeithässlichen Gewerberiegel und megalomanen Rübenfelder des Rheinlands aufhören und die Eifel nur noch ein grünes Auf und Nieder ist. Wenngleich mit Straßen, Supermärkten und diesen fünf Dutzend Windrädern, die entlang einer Höhenlinie gestikulieren.

Der Zivilisationsplunder ist jedoch gleich vergessen. Auf der zentralen Lichtung eines vier Hektar großen Privatwaldes verteilen sich eine überdachte Feuerstelle, zwei Kompostklos und eine Handvoll Rundhütten mit sonnenverbrannter Patina. Das alles sieht so gut und richtig aus, als sei es nicht gezimmert, sondern wie Fels, Baum und Moos aus der Natur selbst entstanden. Gleich nebenan erhebt sich ein alter Sandbruch, den Eisenoxyd in einem intensiven Eichhörnchenrot gefärbt hat. Man kann gar nicht anders, als an Venezuela oder den Kongo zu denken.

Gründer und Spiritus rector von Wildnistraining ist Uwe Belz, der auf dem Gelände wohnt. Er trägt einen weiß lodernden Zuckerwattebart und hackt Holz, während die ersten Teilnehmer eintreffen. Die störrischen Scheite mit Astloch wirft Uwe nach kurzer Prüfung demonstrativ zur Seite. „Die kosten zu viel Energie, die du in einer Survivalsituation sparen musst“, sagt er. „Menschen wollen der Welt immer ihren Willen aufzwingen. Aber das geht nach hinten los. Wer in der Natur bestehen will, muss im Einklang mit ihr sein.“

Was sich ein wenig nach Indianerkitsch anhört, klingt anders, wenn man Uwes Geschichte kennt. Nachdem die Bäume seiner Kindheit im Hambacher Forst dem Braunkohletagebau zum Opfer fielen, ging er in die USA und lernte von Tom Brown vier Jahre lang das Überleben in den Wäldern. Die Ikone der Szene war ihrerseits Schützling von Stalking Wolf, einem legendären Apachen, der ein Leben lang durch Nord- und Südamerika streifte und sich von Naturvölkern unterrichten ließ. Ende der Neunziger verbrachte Uwe ein ganzes Jahr allein in einer selbst gebauten Hütte inmitten der Pine Barrens von New Jersey. Dann kehrte er nach Deutschland zurück, kaufte das Areal und gründete vor 25 Jahren das Camp.

Am frühen Nachmittag stromert unsere 15-köpfige Gruppe durch den Wald, in dem mehr Grüntöne prangen als die deutsche Sprache benennen kann. Man trägt Barfußschuhe, Dutt und eher Camouflage als kasperbunte Funktionskluft. Pascal Koch leitet den Kurs an diesen drei Tagen: ein knabenhafter Mann um die Fünfzig mit geschmeidigen Bewegungen und etwas grundsätzlich Amüsiertem im Blick. Auf einer Anhöhe schließen wir die Augen und versuchen seine Fragen zu beantworten. Wie sahen eben die Wolken aus? Welche Geräusche machten die Vögel? Gab es etwas Essbares? Brennmaterial? Tierspuren?

Keine Ahnung. Was sind wir doch für naturentwöhnte Trampel! So wird das nichts mit dem Überleben. Wer im Wald Gefährliches und Nützliches erkennen will, muss seine Augen überall haben. Zeit also für die erste Übung: Wir strecken die Arme nach vorn und ziehen sie dann langsam zur Seite. Können wir die Hände nicht mehr sehen, wackeln wir mit den Fingern und holen sie damit zurück ins Blickfeld. So soll aus dem Brennpunkt eine Brennlinie werden, die das in der Stadt verkümmerte periphere Sehen aktiviert. Der cremige, ambitionslose Blick fühlt sich irgendwie gut an. Jäger wie er nähmen damit die Tiere besser wahr und wiegten sie gleichzeitig in Sicherheit, sagt Pascal. Er erklärt das Phänomen mit „konzentrischer Energie“. Dann stockt er kurz. Und entschuldigt sich für den esoterischen Ton seiner Bemerkung.

Solcherlei Sanftheit steht im Gegensatz zu dem, was man hier als „White Man Survival“ abtut: jene verkrampfte Männlichkeit, die viele der reißerisch inszenierten Survivalserien wie 7 vs. Wild, Alone oder Naked Survival ausdünsten. „Uns geht es nicht um den großen Titanenkampf gegen die Elemente, sondern um Überlebensstrategien mit den Mitteln der Natur. Wir machen eher Bushcraft als Survival, auch wenn die Grenzen fließend sind. Survival findet in einer aufgezwungenen Notsituation statt und will schnell wieder aus der Wildnis hinaus. Bushcraft aber geht freiwillig in sie hinein und verbindet sich mit ihr“, sagt Pascal.

Übersetzt man „Bushcraft“ mit „Waldhandwerk“ wird klar, was damit außerdem gemeint ist: Der Homo sapiens ist vor allem ein Homo faber – und kein eskapistischer Träumer. Das verrät ein Unterschlupf, an dem wir vorbeikommen. Er ist die Hinterlassenschaft eines TV-Drehs mit einem bekannten Survivalprotagonisten, der den Wald nutzte. Die Konstruktion weckt in Pascal jene Art von Spott, der Handwerker erfasst, wenn sie das natürlich immerzu stümperhafte Werk ihrer Vorgänger kommentieren. Die Feuerstelle: zu groß. Das Dach: zu hoch. Die Lage: kompletter Nonsens. Pascal lacht sich schlapp. „Fernsehen und die Wirklichkeit, das sind zwei verschiedene Dinge.“

Zurück im Lager werden auch wir zu Handwerkern: Wir machen unser Waldgeschirr. Mit einem Stück Glut brennen wir eine Mulde in einen Holzscheit, aus dem durch Pusten nach und nach eine „Feuerschale“ entsteht. Das ständige Blasen bringt Ruß in unsere Gesichter und jenen selbstvergessenen Ernst, mit dem Kinder sich in einem Spiel verlieren. Zum Homo faber tritt der Homo ludens. Und das Erfolgserlebnis kann einem keiner nehmen. Das Selbermachen ist das Credo von Wildnistraining und erweist sich jetzt glatt als Glückstechnik.

Aber die Schale ist mehr als nur ein hübsches Accessoire fürs Wildnisdinner. Sie kann auch Leben retten, indem sie verseuchtes Wasser desinfizieren hilft. Wer von Krankheitserregern Durchfall bekommt, dehydriert schnell und ist zu nichts mehr in der Lage. „Hat man kein anderes Gefäß, füllt man die Schale mit Wasser, legt erhitzte Steine hinein und wartet bis es kocht“, sagt Pascal und stellt sich an eine Schiefertafel. Das Rondell ums Feuer bekommt jetzt etwas von einer Häschenschule. Wir sitzen im Kreis und lernen Wege zu trinkbarem Wasser kennen: Pflanzenstängel, Sickergruben neben Bachläufen, improvisierte Filter, Verdunstungsmechanismen, die entkeimende Kraft der Sonne … Wir aber löffeln heute Kartoffelsuppe aus unseren Schalen. Die schmeckt daraus zwar etwas verkohlt, doch das kommt uns nun vor wie die entscheidende Würze.

Dann liege ich nachts in einer der Hütten. Im Himmel faucht ein Flugzeug, das Minuten später in Köln landen wird. Das ist dann wohl Survival light. Aber ist doch egal. Henry David Thoreau, der Gottvater aller Aussteiger, lebte auch in so etwas. Oder besser wohnte. 1845 zog er für gut zwei Jahre in eine Blockhütte am Walden-See in Massachusetts. Die war allerdings nur einen Spaziergang von seinem Geburtshaus entfernt. Seine Mutter soll ihm sogar die Wäsche gemacht haben. Dennoch wurde sein Buch „Walden“ zur Bibel aller Draußenmenschen. „Es ist hier ebenso gut Asien oder Afrika wie Neuengland. Ich habe eigentlich meine eigene Sonne, Mond und Sterne und eine kleine Welt für mich allein“, schreibt der Sohn eines Bleistiftfabrikanten.

Heute ist die Welt noch viel vollständiger vermessen als zu Thoreaus Zeiten. Aber bei weitem nicht ausgelotet. Sie bleibt voller Geheimnisse und Tiefen. Und darum geht es am Walden-See ebenso wie in der Eifel: durch die unmittelbare Erfahrung das Wilde im Kleinen und Innern zu entdecken, der Binnenexotik des Heimatlichen auf die Spur zu kommen. Beim Gedanken an einen der schönsten Sätze Thoreaus schlafe ich ein: „Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hätte“.

Frühmorgens hieven mich die trudelnden Klänge einer Indianerflöte aus den Tiefen des Traums. So weckt man hier die Kundschaft. Zwei wenden gestern Gelerntes gleich an: Vor ihren Hütten putzen sie sich die Zähne mit den geschälten und angekauten Zweigen einer Eiche, die antibakterielle Gerbstoffe, Harze und ätherische Öle enthalten. Ich belasse es bei der Theorie. Chris aus dem Bergischen Land stochert schon im Feuer und kauert dabei verkrampft wie ein Jockey. Er hat die Nacht in seiner Hängematte im Wald verbracht.

Der Tag beginnt mit Knotenkunde. Aber allein dieses schulmeisterliche Wort! Es fällt mir wie ein nasser Sandsack auf den Kopf. Und meine Befürchtung bewahrheitet sich gleich. Wenn es so etwas wie Knotenlegastheniker gibt, gehöre ich dazu. Keine Schleife will mir so richtig in Erinnerung bleiben. Pascal muss mir immer wieder ins Geschlinge greifen.

Das Knoten-Know-how brauchen wir für den Bau unserer Unterkunft, in der wir diese Nacht schlafen werden. Wir rücken wieder aus in den Wald, dem der Regen einen leisen Silberglanz verpasst hat. Als wir in einem besonders verwunschenen Teilstück ankommen, erfahren wir die drei wichtigsten Faktoren für unsere Waldimmobilie: Lage, Lage, Lage. Das bedeutet zuerst, sich nicht der westlichen Schlechtwetterseite auszusetzen. Man erkennt sie an feuchten Baumrinden. Sind die nicht auszumachen, taugen Buchen als Kompass. Sie bilden nach Süden vermehrt Äste aus, um sich mit ihnen vor zu viel Sonne zu schützen. Wieder jagt ein Learning das nächste. Jedes scheint wichtig, man möchte alle mitschreiben: Auf Ameisenhaufen achtgeben; Plätze an Gewässern meiden, weil sie bei Starkregen in Minutenschnelle steigen können; Fichtenmonokulturen aufsuchen, wenn es gewittert; einen Bogen um Wildwechsel machen, auch weil es dort viele Zecken gibt; „und immer probeliegen und dabei auf sein Bauchgefühl achten“, empfiehlt Pascal, hebt die Hände und entschuldigt sich wieder fürs vielleicht allzu Seelenvolle.

Unsere Unterstände machen wir aus Tarp. So heißt jene dünne Plane, die fast alles kann. Sie hält trocken und warm, und es lässt sich sogar kochen mit ihr, wenn man heiße Steine hineinlegt. Zwischen Baumstämmen spannen wir Schnüre, die mit Schiebeknoten straffgezogen werden und das Tarp tragen. Stöcke und Zapfen helfen, es in der gewünschten Form zu arretieren. Zusammen mit der Isomatte ist das schon fast Camping. Vielleicht macht sich ein Paar deswegen die Unterlage aus frischem Reisig selbst. Aber nicht aus irgendwelchem. Sondern aus jenen Zweigen, mit denen eine Fichte einer jungen Buche die Sonne nimmt. „Das ist das Prinzip des Care Takings, sagt Pascal. „Ich bekomme meinen Reisig und die Buche genug Licht um groß und stark zu werden. So muss es sein.“

Umsicht ist das Survivaltool schlechthin, so viel ist jetzt schon klar. Wir brauchen sie auch am Nachmittag, an dem wir unser Abendessen besorgen. Selbst wenn es nur die Wildkräuter für ein Pesto sind. Die meisten Samen und Wurzeln, die ordentlich Kalorien und Fette böten, sind erst ab Herbst zu haben. Das wird karg, dachten wir zunächst. Doch jetzt sind wir ganz betäubt von all den Möglichkeiten. Löwenzahn, Wegerich, Sauerklee, Bärlauch, Sauerampfer, Vogelmiere – jedes Gewächs überzeugt. Zum Beispiel das brave Gänseblümchen: Es steckt voller Kalium, Kalzium, Magnesium, Eisen, den Vitaminen A und C, ätherischer Öle, Gerbstoffe, Saponine, Bitterstoffe und Inulin. Wir sammeln jedoch vor allem Giersch, der lecker nach Petersilie schmeckt, und natürlich die Königin der Szene: die Brennnessel. Sie ist nicht nur ein Power-Snack mit vielen Vitaminen und Mineralstoffen, sondern hat auch noch sieben Gramm Protein. Auf mehr kommen selbst Kichererbsen nicht.

Dazu liefert die Brennnessel lange, griffige und elastische Fasern für die Kordel unserer Feuerbögen. Und damit für die Herausforderung des Wochenendes: die streichholzlose Flammenmanufaktur. Das Mindset, sagt Pascal, denkt an das Mindset. Er meint damit die richtige Balance aus Ambition, Demut und Zuversicht. Doch auch wenn ich meinen Ehrgeiz mit dem teilnahmslosen Blick eines Ameisenforschers zu kaschieren versuche: Es nützt nichts. Anderen geht es ebenso. Manchmal wagt sich ein zartes Flämmchen hervor – und verschwindet gleich wieder, als bräche der dafür zuständige Gott den Vorgang gelangweilt ab.

Dann versuche ich es mit einem Feuerstein. Jedes Hineinratschen des kleinen Funkenregens in den Zunder ist ein Hoffnungsblitz. Doch viel Geduld braucht es gar nicht: Schon nach zwei Minuten beginnt er zu glimmen und zu rauchen. Ich setze die Glut in ein Bällchen aus Stroh, puste von unten hinein – und es brennt. Sofort durchglüht mich ein Wärmestrom der Dankbarkeit. Mehr Schamanengefühl geht nicht. Es scheint wahr zu sein, was Pascal eben sagte: Feuermachen ist ein Urinstinkt. Und er hatte sich noch nicht einmal entschuldigt dafür.

Nach unserem bitteren Brennnesselpesto mit Olivenöl, Walnüssen und Nudeln flammen am Lagerfeuer Gespräche auf. Zuerst kommen sie mir vor wie eine Art verbale Fellpflege unter Waldmenschen. Dann wird mir der Achtsamkeitssound zu viel und ich mache mich stirnlampenbewehrt auf zu meinem Unterschlupf, den ich weit entfernt von den anderen postiert habe. Der Wald wirkt nun nicht so grimmsmärchenhaft wie tagsüber. Er macht mich vielmehr zum Knecht meiner Idiosynkrasien, beschwört alle Gruselszenen herauf, die ich je in meinem Leben geschaut habe. Und unterm Tarp wird es nicht besser. Sein Tarnfleckmuster wirkt im Lichtkegel wie ein Fiebertraum. Ich erkenne Elche mit brennendem Geweih, Zwerge, die auf Schmetterlingen reiten. Irgendwo huhut eine Eule, peitscht das hohe und heisere Bellen eines Fuchses durch den Wald. Dann herrscht wieder Stille wie im Grab. Jetzt bekomme ich eine Ahnung davon, warum Einsamkeit der häufigste Grund ist, aus dem die Teilnehmer dieser Survival-Spektakel irgendwann aufgeben. Es wird schon so sein: Nichts höhlt den Lebenswillen tiefer aus als sie. Das Mindset ist tatsächlich alles.

Das erwartete Vogelkonzert am Morgen bleibt aus. Dafür rauschen die Blätter wagnerianisch im Gewühl der Baumkronen. Ich liege in ihrem Astschattenwerk und sammele die ersten Gedanken des Tages ein. So sind Menschen wohl über viele Jahrtausende aufgewacht. Glaubt man Studien, sinken im Wald Blutdruck, Puls und Atemfrequenz, wecken die Aromen von Laub und Erde Kindheitserinnerungen. Deswegen fühlen wir uns hier so wohl. Zumindest am Tag, wenn das Sonnenlicht unser inneres Horrorkabinett vertreibt.

Die Flora würdigt unser Kurs nach Kräften. Tiere aber kommen kaum vor. Auf dem Weg zum Camp treffe ich Uwe, der das ein bisschen ausgleicht. Sein Mentor Tom Brown hatte als Fährtenleser sogar das FBI unterstützt. Jetzt weist Uwe auf Spuren im roten Lehm des Sandbruchs. Die Sonne hat ihn getrocknet und die Trittsiegel wie Gipsabdrücke konserviert. Die ovalen Stapfen mit den vier sichtbaren Zehen sehen besonders frisch aus. Sie sind aneinandergereiht wie die Glieder einer Kette. Uwe geht tief in die Knie und diagnostiziert einen Fuchs im schnellen Trab. „Wenn ich seine Position einnehme, erkenne ich, in welcher Situation er sich befand. Dem Fuchs war das hier nicht geheuer. Er hat sich beeilt, um schnell durchs Offene zu kommen.“ So ist das also. Der bellende Fuchs hatte gestern mehr Angst vor mir als ich vor ihm.

Zum Schluss laufen wir alle durch den Lehm und beeilen uns ganz und gar nicht: Pascal unterrichtet uns im Fuchsgang. Der bedächtige Move ist so etwas wie das motorische Pendant zum peripheren Sehen, mit dem der Kurs begonnen hatte. Beide gelten als die Waldtugenden schlechthin. Die Wade des Spielbeins bleibt betont locker, der Fuß setzt mit der Spitze auf wie der einer Marionette. Oder eines Fentanylabhängigen. Heiliger Ernst wabert durch die Gruppe. Nur bei mir will er sich nicht einstellen. Zwar meinte schon Alexander von Humboldt, dass die Natur gefühlt werden müsse. Aber dieses achtsame Stolzieren wird mich wohl kaum in die Stadt begleiten. Der Weitwinkelblick dagegen hat gute Chancen. Ich sehe mich schon beim Üben zwischen Supermarktregalen. Nur an diesen verdammten Feuerbohrer sollte er mich nicht erinnern.