Castros Jugendliebe
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Castros Jugendliebe

MERIAN, 2018

Castros Jugendliebe

 

Im Süden von Kuba liegt eine Inselschönheit, die schon viele verzaubert hat. Doch die Isla de la Juventud wurde immer wieder ausgenutzt und verlassen.

Es ist eigentlich nur ein Hüpfer für die zweimotorige Antonov: Gerade einmal 160 Kilometer Luftlinie trennen Havanna von der Isla de la Juventud. Doch die fühlen sich an wie eine Weltreise, wenn die Verspätung in die Stunden geht und man im Wartesaal gesteckt bekommt, dass die Sache Methode hat. Flüge auf die in Form eines Schreibmaschinenkommas ins Meer gehämmerte Antilleninsel starten kaum nach Plan, sondern erst dann, wenn in einem anderen Landesteil eine Maschine frei wird.

Die wenigen Passagiere am Gate im Flughafen von Havanna haben dieses offene Geheimnis längst hingenommen. Sie wissen: Die Isla de la Juventud ist das lange ausgebeutete Aschenputtel Kubas, das seinen Prinzen noch nicht gefunden hat. Die zweitgrößte Insel des Landes diente immer wieder als Bühne wahnwitziger Utopien. Ihre Periode als Piratenversteck zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert war seit Kolumbus noch die längste ihrer Geschichte. Danach amtierte sie als spanische Strafkolonie, amerikanische Enklave, kubanische Gefangeneninsel, bedeutender Fruchtexporteur und Plattform für Fidel Castros Traum vom sozialistischen Internationalismus. Doch jede einzelne Etappe endete im Fiasko.

Und so ist die Insel heute ein Ort, den der Wind der Geschichte immer wieder erfasst und dann ziemlich zerzaust zurückgelassen hat. Doch genau dies macht sie zur struppigen Antithese des gestriegelten All-inclusive-Tourismus. Statt mit glatt geputzten Hotelklötzen ist sie gespickt mit bröckelnden Häuserruinen in einer Landschaft von verwunschener Schönheit. Menschen würden erst dann zu Geschichten, wenn ihnen etwas dazwischen käme, meinte der Philosoph Odo Marquard. Auf der Isla de la Juventud spürt man: Das gilt auch für Orte.

Im Taucherhotel „El Colony“ wird das gleich deutlich. Es liegt an der Westküste, wo das Meer so schrill türkis leuchtet, als habe ein Grafiker die Kontrolle über seine Kontrastregler verloren. Dennoch sind keine anderen Gäste da. Der zerborstene Steg, die ungeniert schlafenden Kellner, die Blätter im Pool: Das „El Colony“ ist ein gigantisches Monument der Vanitas, auf dem irgendein Fluch zu lasten scheint. Es kann nur der von 1958 sein. Damals baute der Mafioso Lucky Luciano die Anlage für den Casinobetrieb. Doch die Prostituierten hatten gerade erst zu lächeln und die Roulettekugeln zu klackern begonnen, da beendete die Revolution das Investment und schickte es in einen jahrzehntelangen Dornröschenschlaf.

Hier steht nun Klaus Hildebrandt fünf Minuten vor der Zeit neben dem Frühstückstisch und klopft auf seine Armbanduhr. Gasflammenblaue Augen, ärmelloses Shirt. Und ein so drastisches Sächsisch, dass einem die Ohren klingeln. „El Seguro“ nennen sie den Ergrauten hier: der, der immer pünktlich ist. „Ist doch prima für einen Taxifahrer“, sagt er und zwängt sich in einen winzigen Hyundai.

Die Fahrt geht in die Hauptstadt. Klaus raucht Kette und erzählt hustend von seinem Lebensschicksal: Acht Monate vor dem Mauerfall verliebte er sich in eine kubanische Gastarbeiterin und zog mit ihr von Leipzig hierher. Als seine hellhäutige Frau kurz nach der Heirat ein schwarzes Kind zur Welt brachte, ließ er sich scheiden und heiratete noch zwei weitere Male, um seinen Aufenthaltsstatus nicht zu verlieren. Seinen Job als Techniker ist er längst los, heute schlägt er sich als Fahrer und Guide für die Handvoll Touristen durch, die hin und wieder hierher finden. Besuche in der alten Heimat hat er sich nie leisten können.

Klassische Sehenswürdigkeiten sind die Sache der Insel nicht. Aber Klaus gibt sich Mühe. Im Nest La Victoria empfiehlt er Fotos am Denkmal für Ubre Blanca. So hieß vor 30 Jahren die Weltrekordhalterin im Milchgeben. Fidel Castro verehrte die Kuh als Beispiel für die Überlegenheit kubanischer Zucht, und als das Tier starb, druckte das Parteiorgan Granma einen Nachruf. Heute fehlt der vierbeinigen Skulptur das linke Marmorhorn, und der Schwanz ist auch abgebrochen. Auf der Isla de la Juventud wirkt beides so richtig und angemessen wie die abgeschlagenen Unterarme antiker Statuen.

Ein paar Kurven weiter wuchert die Vegetation derart üppig, dass selbst die Luft grün zu sein scheint. Klaus lenkt den Wagen in einen Wald, wo die Luftwurzeln 300 Jahre alter Jagüey-Bäume immer neue Formen finden, sich in den Boden zu winden. Es ist, als tanzten Fabelwesen einen Reigen. Dann dauert es nur noch zwanzig Minuten, bis die napfkuchenartigen Berge von Nueva Gerona auftauchen.

Das Lächeln sitzt locker in der Hauptstadt, irgendwo brüllt immer ei­ner einen Scherz quer über die Straße. Der Großteil der 85.000 Insulaner lebt zwischen den verwitterten Säulenarkaden von Nueva Gerona. Der Verkehr besteht vor allem aus Fahrradtaxis, deren Chauffeure wenig gemein haben mit ihren Kollegen in Havanna, die wie Krokodile nach jedem Touristendollar schnappen. Hier erinnern sie eher an Kinder, die in der Langeweile der großen Ferien planlos durch die Gegend cruisen.

Ein Treppenwitz der Geschichte

Selbst die Plattenbauten haben etwas Leutseliges in Nueva Gerona. Vielleicht liegt es an den erratischen Kreisen, Strichen und Pfeilen in Rot und Schwarz, die überall die Wände zieren. Es sind Kopien der bis zu 3.000 Jahre alten Höhlenmalereien von Punta del Este. Der Fundort liegt in der Wildnis einer als Naturschutzpark deklarierten Sperrzone im Süden, die mehr als ein Drittel der Insel umfasst. Wer dorthin will, braucht eine Sondergenehmigung und einen Führer von einer staatlichen Tourismusagentur. Das sei nötig wegen der Unwegsamkeit des Gebiets, heißt es dort.

Doch es gibt Gerüchte, und die stehen bei der Bevölkerung höher im Kurs. Damian etwa glaubt, die Zone habe mit der Seeroute zur mexikanischen Halbinsel Yucatán zu tun, die sich aufgrund günstiger Strömungen als Alternative zur Flucht nach Miami etabliert hat. „So können sie uns besser kontrollieren“, sagt der 28-Jährige, der aussieht, als habe er sich als Lude verkleidet – goldene Tropfenbrille, goldene Kreolen, goldene Ringe an jedem Finger. Er sitzt im zentralen Park und hat gerade mit seinem Onkel in Florida gechattet. 2015 haben die Behörden hier öffentliches WLAN installiert. Seither trifft sich tout Nueva Gerona rund um einen Monopteros und lässt sich vom blauen Schein seiner Smartphones hypnotisieren. „Damit die Leute ruhig sind“, sagt Damian. „Trotzdem wollen gerade die Jungen weg. Und nicht nur nach Havanna.“

Der Name der „Insel der Jugend“ klingt daher wie ein Treppenwitz der Geschichte. In den Jahren nach der Revolution stoppte Fidel Castro touristische Projekte wie das Hotel „El Colony“, legte dafür Plantagen an und wusste auch, wie man sie am günstigsten bewirtschaftet: durch Stu­denten aus sozialistischen Bruderländern. In der Ära des Internationalismus, während der Kubas Soldaten weltweit für Freiheitsbewegungen kämpften, streute er 61 Landinternate über die Insel – kantige Riegel, die vom Flugzeug aus wirken, als habe ein Riesenkind seine Bauklötze nicht aufgeräumt – und taufte die Isla de Pinos um zur Isla de la Juventud. Hier lernten und arbeiteten in den siebziger Jahren rund 20.000 Studenten, heute sind es nur etwas mehr als ein Zehntel. Was ist aus all den Schulen geworden?

José Montalbuo war Direktor von einem der Internate und leuchtet noch heute buchstäblich vor Stolz auf das Projekt – auch wenn ihm aus dieser Zeit nur ein kirschroter Lada geblieben ist. Mit dem geht es nun zur Besichtigung. Ein Stück südlich von Nueva Gerona steuert er auf den schnurgeraden Camino 29 und beginnt zu schwärmen: „Wenn Fidel zu Besuch kam, winkten hier Tausende Kinder mit ihren Fähnchen. Ein wundervolles Bild.“ Die 12- bis 15-Jährigen kamen aus Ländern wie Angola, Mosambik oder Burkina Faso. Ein Internat beherbergte 500 Schüler einer Nation und trug eine Nummer. Sudanesen waren in der 47 untergebracht, Äthiopier in der 4, Namibier in der 15. „Während die eine Hälfte unterrichtet wurde, arbeitete die andere auf Zitrusplantagen und umgekehrt“, sagt der einstige Leiter der äthiopischen Schule.

José parkt vor Namibia. Ein fünfzackiger Betonstern grüßt am Eingang der Nummer 15: eine Plattenbauruine wie aus einem Endzeitthriller. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks fehlte für die meisten Schulen das Geld, erklärt José. Im Innern nehmen die Gänge und verwilderten Innenhöfe kein Ende. Man sieht geborstene Kacheln und immer wieder Wandbilder von Lenin, Marx oder Guevara. Ein Gesicht jedoch erkennt man nicht. „Das ist Sam Nujoma“, sagt eine kleine Frau mit hohen Wangenknochen, die plötzlich auftaucht. „Er hatte damals die namibianische Befreiungsbewegung SWAPO geführt und war ein Freund von Fidel Castro. Darum mochte Fidel diese Schule besonders.“

Die Barfüßige heißt María Álvarez und begann hier vor 27 Jahren als Lehrerin. Sie steht für die Mehrheit der Einwohner, die erst wegen der Internate herzog und trotz aller Widrigkeiten Wurzeln schlug. Nachdem die Schule 1994 geschlossen wurde, blieb sie einfach da und richtete sich als Selbstversorgerin im einstigen Verwaltungstrakt ein. „Manchmal kommen frühere Studenten vorbei, die heute Politiker in Namibia sind“, sagt sie, während draußen eine ihrer Ziegen meckert. „Sie sehen dann, was aus ihrer Schule geworden ist und haben Tränen in den Augen.“

Einer anderen Ruine weint niemand nach. Sie ragt im Nordosten der Insel aus dem Gras wie ein Werk von Dämonen: der Presidio Modelo. Der Komplex aus fünf Rundbauten samt Nebenblocks ist ein ehemaliges Gefängnis, das Diktator Machado 1932 fertigstellen ließ. Am Nachmittag türmen sich Gewitterwolken über den Giganten auf und verleihen ihnen eine zyklopische Schönheit. Drinnen strahlt das Licht beinahe sakral durch das zesplitterte Dach und die Fensterlöcher der offenen Zellen, die kreisförmig rund um den Wachturm liegen. Ein einziger Aufseher konnte so 930 Gefangene pro Bau überwachen. Insgesamt saßen mehr als 6.000 Menschen im Presidio Modelo ein, darunter auch Fidel Castro und seine Mitstreiter nach ihrem gescheiterten Angriff auf die Moncada-Kaserne.

Das Schöne und das Schreckliche liegen nah beieinander auf der Isla de la Juventud. Die hübsche Playa Paraíso etwa ist nur ein paar Fahrradminuten von der Gefängnisruine entfernt. Am späten Nachmittag stehen dort Familienväter mit Bierflaschen im blaugrün gescheckten Wasser, vor der Strandbude spielt eine Band Sucu Sucu, die kribbelig-­heitere Inselvariante des Son.

Die Musik passt gut zu Osiry und seinen Jungs, die ihr Training heute hierher verlegt haben. Der 44-Jährige hat zwar das Gesicht von Mike Tyson, ist aber fünfmaliger Champion im Ringen und Trainer der Inselkämpfer. Gerade schmeißt sich der Nachwuchs gegenseitig in den Sand – Osiry lässt Schulterwürfe üben. Eben erst haben sie wieder bei den Jugendmeisterschaften in Havanna drei Medaillen gewonnen, erzählt der Coach und klopft sich die nächste Zigarette aus der Schachtel. „Das sind schöne Erfolge, klar. Aber eigentlich geht es um viel mehr.“ Und das wäre, Osiry? Der Modellathlet inhaliert fast inbrünstig und bläst den Rauch lange in die Luft. Dann sagt er leise: „Es geht darum, zu begreifen, dass unsere Insel auch gewinnen kann.“