Die Apokalypse ist Alltag
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Die Apokalypse ist Alltag

FAZ, 2005

Die Apokalypse ist Alltag

 

Faustrecht der Gier: Bei den Goldgräbern im Südosten Venezuelas

Es gibt Momente, in denen gleicht Pata de Cumbia einem Feldherrn. Dann verschränkt er seine Arme hinter dem Rücken, schiebt sein rechtes Bein gebieterisch nach vorne und kneift die Augen zu zwei Sehschlitzen zusammen. Es ist eine wagnerianische, durch nichts zu entweihende Pose. Selbst Pata de Cumbias speckiger Sonnenschild, sein Bartgestrüpp und seine nackten Füße wirken dann wie Würdezeichen. Zum Beispiel jetzt, als sein Redestrom plötzlich verebbt und sein Blick über eine Art tropisches Schlachtengemälde schweift: Eingefasst vom Dschungelpelz des Imataca-Regenwalds, glüht vor ihm eine von zahllosen Kratern zerrissene Mondlandschaft in der Nachmittagssonne. In ihren bis zu zwanzig Meter tiefen Gruben staut sich blutrotes Wasser, durchwühlen Hunderte von Menschen die Erde. Während sie mit Schaufeln und wasserspeienden Schläuchen den Lateritboden zerfleischen, grübelt Pata de Cumbia über seinen nächsten Angriff. Er will einen Trichter in ein Waldstück sprengen, um so seinem Rivalen den Weg abzuschneiden. Denn dort liege Gold. Kiloweise. Wer dies nicht glaube, solle nur abwarten, er wisse, wovon er rede, alle würden noch staunen. Pata de Cumbia kommt in Fahrt. Die Suaden schießen wieder wie Springquellen aus ihm heraus, und seine himmelblauen Augen funkeln und tanzen in ihren Höhlen.

Natürlich heißt Pata de Cumbia nicht wirklich so. Den Spitznamen, der übersetzt etwa „Tanzpfote“ bedeutet, bekam der Fünfzigjährige mit den silbergrauen Haaren wegen seines hinkenden Gangs. Tatsächlich heißt er Dieter Maas, ist Deutschvenezolaner und Goldgräber – wie schon seine Eltern und Großeltern. Die Familie kam nach dem Ersten Weltkrieg vom Niederrhein in den Distrito Aurífero, den Golddistrikt des Bundesstaates Bolívar im brütendheißen Südosten Venezuelas. Dort ziehen sich am Fuß der Tafelberge des Canaima-Nationalparks zwei Dutzend Goldgräbersiedlungen einen neunzig Kilometer langen Straßenabschnitt entlang, über dem das Blattwerk immer wieder zu Chlorophyllkuppeln zusammenwuchert. Das Asphaltband windet sich durch jene Region, in der zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts der Abenteurer Sir Walter Raleigh die sagenumwobene Goldstadt El Dorado suchte. Zweihundert Jahre später schürften hier französische Minengesellschaften nach dem Edelmetall, später kamen die Briten mit riesigen Goldmühlen und trotzten der Malaria bis zum Zweiten Weltkrieg. Danach wurde es für Jahrzehnte still in der Gegend.

Mit der Ruhe ist es jetzt vorbei. Seit ein paar Jahren deliriert das Gebiet nördlich der berühmten Savannenlandschaft der Gran Sábana im Goldfieber. Zwischen El Dorado im Norden und San Isidro im Süden sind inzwischen eine Viertelmillion Goldgräber in ein unwegsames Gebiet von der Größe des Saarlandes eingesickert. Manche von ihnen arbeiten für Gesellschaften, andere in Kooperativen. Doch die meisten sind Hasardeure, die ihrem Glück auf eigene Faust nachjagen. Sie kommen aus Brasilien und Guyana, aus Kolumbien und der Dominikanischen Republik. Sie kommen, weil sich hier das Gold besonders einfach der Erde entreißen lässt. Und sie kommen, weil die Plackerei derzeit so einträglich ist wie lange nicht mehr. Im Frühjahr stieg der Goldpreis auf den höchsten Stand seit fünfzehn Jahren. Wenn man den Experten Glauben schenkt, wird sich am Wert des Edelmetalls so bald nichts ändern.

Das Epizentrum des Booms ist Las Claritas. Zusammen mit dem Straßendorf San Isidro ist der Ort in den vergangenen Jahren zu einer Agglomeration von fünfzigtausend Einwohnern angeschwollen. Wer die Goldgräbermetropole besucht, hat in jedem Moment den Eindruck, er befinde sich inmitten der Dreharbeiten zu einem Indiana-Jones-Abenteuer und Steven Spielberg habe gerade „Action!“ gerufen: Passantenströme von Schwarzen und Mestizen, von Mulatten und Weißen mäandrieren ohne Unterlass kreuz und quer, als folgten sie einem verborgenen Plan. Verbeulte Straßenkreuzer aus den siebziger Jahren tuckern im Schritttempo durch verstopfte Gassen, in denen fliegende Händler und grell geschminkte Prostituierte ihre Kundschaft animieren. Betrunkene stolpern durch die Schwingtüren brodelnder Kaschemmen, Merengue- und Salsa-Rhythmen stampfen durch die Schwüle und mischen sich mit dem Gezänk der Dominospieler. Irgendwo kämpfen Hunde um einen toten Leguan, gehen Gläser zu Bruch, sitzen Transvestiten auf einer Motorhaube und lassen die Rumflasche kreisen. Eine bizarre und ekstatische Energie hält die Stadt im Griff, und schon nach wenigen Minuten in Las Claritas ist man überzeugt, daß es nur die Gier nach Gold sein kann, die sie nährt.

„Gold! Kein Mensch, kein Hund, noch nicht einmal die verdammten Moskitos wären hier ohne das Gold! In Las Claritas lebt niemand von etwas anderem. Niemand!“ Es ist noch früh, als Dieter alias Pata de Cumbia seinen aufgebockten Wohnwagen in San Isidro verlässt, aber seine Redelust ist schon erwacht. In einem fünfundzwanzig Jahre alten Chevrolet Caprice rollt er durch das morgendliche Gewühl, um Lebensmittel einzukaufen, Essen für sein Camp. So nennt er das Dschungellager am Rand einer Mine, in dem er das Kommando führt. Ein Leben lang stand er selbst im roten Schlamm der Gruben, heute tun dies fünf Männer für ihn. Fünfundzwanzig Gramm Rohgold im Wert von zweihundert Euro schürfen sie pro Tag. Den größten Teil davon behält Dieter. Im Gegenzug stellt er ihnen Geräte zur Verfügung, während seine Freundin für die Truppe in einer der palmblattgedeckten Bretterbuden kocht, die sich wie Futterkrippen durch den Urwald ziehen.

„Du kannst mit den besten Vorsätzen hierherkommen“, sagt Ben, der in Las Claritas eine der mehr als hundert Goldankaufsstellen betreibt. „Doch das ist völlig egal. Die Plackerei, die Hitze, die Einsamkeit, die Malaria – all das lässt dich verrohen. Jeder Neue hält das gerade ein paar Wochen aus, dann versäuft und verhurt er jedes einzelne Körnchen, das er findet.“ Ben ist ein Schwarzer aus Britisch Guyana. Er spricht Oxford-Englisch, das hier so fehl am Platz wirkt, als zapfe die Queen Bier in einem der Bordelle nebenan. Sein Geschäftsraum ist ein Trailer mit einer Luke, aus der eine Tischplatte ragt. Darauf stehen eine Waage und eine Handvoll Gewichte. In der Schublade darunter befinden sich eine Geldkassette und eine Pistole. Ben arbeitet als Zwischenhändler für seinen Boss in Caracas, den er jeden Morgen anruft, um den Dollarkurs zu erfahren. Nach ihm richtet sich der Goldpreis.

„Was ist schon verkehrt an einem bisschen Spaß?“ kräht Gilberto dazwischen. Der Goldgräber erscheint vor Bens Wagen und legt seine sehnigen Unterarme auf den Tisch. Gilbertos Grinsen ist kahl, gerade einmal drei Schneidezähne stecken wie schmutzige Kreidestücke in seinem Kiefer. „Was ist schon verkehrt daran?“ fragt er noch einmal und wickelt umständlich stecknadelkopfgroße, eher braune als gelbe Bröckchen aus einem Papier. „Wenn das Gold weg ist, holst du dir eben neues. Liegt doch genug herum, oder? Und solange die Mädels nicht teurer werden …“ Typen wie der Brasilianer Gilberto sind Bens Stammkunden, Einzelgänger von schwer schätzbarem Alter, die nichts zu verlieren haben; die von der Hand in den Mund leben und die sich an ihre Träume längst nicht mehr erinnern können.

Alle, die bei Ben ihre Funde verhökern, arbeiten illegal, seit der Staat in den neunziger Jahren Konzessionen an internationale Minengesellschaften verkaufte. Doch kaum eine der Firmen hat je die Arbeit aufgenommen. Manche von ihnen, so heißt es, kungelten ihre Konzessionen mit der staatlichen Holding allein zu dem Zweck aus, um mit den Schürfrechten an den Börsen zu spekulieren. Andere finden wegen der chaotischen Rechtslage keine Finanziers. Die Folge ist Stillstand. „Sie geben uns keine Arbeit, also nehmen wir sie uns“, sagen die Goldgräber. Sie wissen, daß korrupte Politiker und Militärs ihre schützende Hand über sie halten, und spielen Katz und Maus mit den Gesellschaften. Und es hat den Anschein, als tue dies auch der exzentrische Staatspräsident Hugo Chávez. Die Mineros jedenfalls gehören nach wie vor zu den größten Anhängern des Linkspopulisten.

Die Verträge der Minengesellschaften lesen sich wie soziale Entwicklungspläne. Mit ihrer Unterzeichnung versprachen die Unternehmen den Bau von Schulen, Krankenhäusern und Wohnungen. Dass bis heute kaum ein Projekt verwirklicht wurde, ist schlimm. Viel schlimmer aber als diese leeren Versprechungen ist das ökologische Desaster. Die Ströme der illegalen Goldsucher sind unter den herrschenden Bedingungen nicht zu kontrollieren. Wie Krebsgeschwüre metastasieren sie durch den Dschungel und hinterlassen eine Spur der Zerstörung. Jedes Jahr verseuchen Tonnen von Quecksilber den Boden. Immer wieder erblinden oder sterben Pemon-Indianer, weil sie aus den Bächen Wasser trinken. „In den Minen herrschen apokalyptische Zustände“, sagt William Saud. Der Präsident der einzigen Goldgräbergewerkschaft befürchtet, dass sie den Imataca-Regenwald am Rande des Canaima-Nationalparks, den die Unesco 1994 zum Erbe der Menschheit erklärte, für immer zerstören werden.

Die Apokalypse zeigt sich am beeindruckendsten auf dem Minengelände Las Cristinas, der größten illegalen Goldmine der Welt. Mehr als zehntausend Männer vergewaltigen hier die Natur. Viele von ihnen stehen in den Kratern, brechen mit Spülkanonen das Erdreich auf und treiben die von Quarzadern durchwirkte Schlammflut den Schlünden der Pumpen entgegen. Das Gebrüll der Dieselmotoren lässt die Luft erzittern. Als läge ein irdener Gulliver auf einem Operationstisch, irren unzählige Schläuche über die Grubenränder in die Höhe und erbrechen die Brühe auf wackelige Holzgerüste. Von dort fließt sie über lange, mit Filzmatten ausgeschlagene Rutschbahnen. Dabei verfängt sich goldhaltiger Sand in den Fasern. Die Arbeiter lesen ihn aus den Matten und den Becken am Ende der Schleusen, mischen ihn mit Wasser und Quecksilber und lassen das Gebröckel so lange über den Rand einer Kupferschale kreisen, bis seine Goldpartikel mit dem Schwermetall amalgamieren. Die Legierung wird über einer Lötlampe erhitzt, das Quecksilber verdampft, Rohgold bleibt übrig. Das Verfahren ist genauso simpel wie verheerend: Zahnausfall, Hautschäden, Gedächtnisverlust und Sehstörungen sind die häufigsten Krankheiten, die das Quecksilber verursacht. Und als ob dies nicht reichte, sind die Tümpel auch ideale Brutstätten für die Malariafliege.

Inmitten dieser Hölle wohnen Menschen. Ihre Hütten sind aus Brettern, Zweigen und Plastikplanen gebaut. Wäsche liegt zum Trocknen aus, an Astgabeln baumelt Geschirr. Kioske bieten ihre Waren feil, Händler ziehen mit Bauchläden herum. Nachts wagen viele Bewohner nicht aufzustehen. Wenn es sein muss, urinieren sie aus der Hängematte. Der Grund dafür ist fünfzehn Zentimeter lang, gepanzert und besitzt einen dolchartigen Stachel: Skorpione. Wer auf sie tritt, stirbt qualvoll. Nach einem Stich kann nur eine sofort verabreichte Dosis Antiserum die Lähmung der Atmungsorgane verhindern. Und ein Kolumbianer erzählt, wie man sich der Vogelspinnen entledigt. „Du musst sie mit einem benzingetränkten Lappen verbrennen“, sagt er. „Auf keinen Fall darfst du sie mit einem Stein erschlagen. Das wäre viel zu gefährlich.“ Ein Spritzer aus ihren prall gefüllten Giftdrüsen genüge, um einen Menschen ins Jenseits zu befördern. Ziemlich machtlos sei man aber gegen die allgegenwärtigen „Veinticuatros“. Der Biss der winzigen Ameisen löst ein vierundzwanzigstündiges Fieber aus.

Auch Santo Domingo gehört nicht zu den Orten, in denen man gerne einen Abendspaziergang machen würde. Durch die planlos gewachsenen Straßen der Siedlung zwischen der Mine und Las Claritas strömt ein scharfes Aroma der Gewalt. Die Einwohner des von Immigranten aus der Dominikanischen Republik dominierten Fleckens bekämpfen alle Versuche der Minengesellschaften, die illegalen Goldgräber von ihren Arealen fernzuhalten. Und die Firmen wissen genau, dass mit dem Mob nicht zu spaßen ist. Denn hier gibt es weder eine Polizei noch andere Instanzen, die verlässlich für Ordnung sorgen. In Santo Domingo regiert das Recht des Stärkeren, die Macht der Pistole, die Autorität des Buschmessers. Und so bringt der Fund eines großen Nuggets in Santo Domingo oft kein Glück, sondern den Tod.

Dieter alias Pata de Cumbia schrecken solche Zustände nicht. Er kennt die Welt nicht anders. „Gold ist Gold, auch wenn es im Beutel eines Banditen steckt“, philosophiert er auf dem Heimweg von seiner Mine, wuchtet den nächsten Gang ins Getriebe seines Chevys und hupt zwei dralle Prostituierte von der Straße. Er freut sich so sehr über sein Bonmot, dass er den Satz gleich zweimal wiederholt. Dabei fuchtelt er mit seinem Gebiss in der Luft herum. Längst hat das Quecksilber auch Dieters Zähnen den Garaus gemacht. Und während er redet und redet, verfärbt sich der Himmel tintenschwarz. Pata de Cumbia spricht auch noch, als plötzlich die Luft explodiert und grellgelbes Licht die Welt ausleuchtet, als hätte jemand auf einen Schalter gedrückt. Ein wütender Wolkenbruch peitscht jetzt das geschundene Land. Im Lichtkegel der Scheinwerfer erscheinen dürre Männer, die sich ihre Waschpfannen wie asiatische Reisbauernhüte auf den Kopf gesetzt haben. Rote Sturzbäche schießen über die Straße, Äste schleudern durch die Luft, Blitze rasen wie irr gewordene Ungeheuer über das Firmament – ein biblisches Spektakel. Man wird den Gedanken nicht los, die Natur hielte nun die Zeit für gekommen, sich zu rächen.