Im Paradies der Paranoiker
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Im Paradies der Paranoiker

FAZ, 2004

Im Paradies der Paranoiker

 

Sie sind unter uns: Das Wüstennest Rachel in Nevada hält den Kontakt zu den Außerirdischen

Die Morgendämmerung war schon fast angebrochen, als Chuck Clark in dieser Februarnacht zum ersten Mal sein Fernglas an die Augen hob. Bis dahin schwammen im Sternenmeer der Milchstraße nur Satelliten, profane Flugapparate, wie man sie in den kristallklaren Wüstennächten des amerikanischen Südwestens zu Hunderten mit bloßem Auge erkennen kann. Doch was der Hobbyastronom plötzlich am unteren Rand der Himmelskuppel bemerkte, hatte er noch nie gesehen. Etwa zehn Kilometer von ihm entfernt schwebte eine gleißende, von einem pulsierenden Licht gekrönte Scheibe über die Hügel, kam knapp über dem Boden zum Stehen und hüllte Sand, Felsen und Kakteenbäume in ein orangefarbenes Lichtkleid. Atemlos verfolgte er, wie das Vehikel auf einmal losraste, am Ende des Tals zwei Haken schlug, steil in die Luft schoss und verschwand. Zitternd ließ Chuck das Fernglas auf seine Brust sinken. Ein Ufo. Er hatte in dieser Nacht ein Ufo beobachtet. Eine von Außerirdischen gesteuerte Maschine aus einer Welt, die nicht die seine war. Es gibt keine andere Erklärung. Nicht für Chuck Clark.

„Hundertachtzig-Grad-Schwenks bei einer Geschwindigkeit von mindestens neuntausend Meilen in der Stunde! Nach physikalischen Gesetzen hätte von dem Ding nur noch ein Klumpen geschmolzenes Metall übrigbleiben dürfen.“ Chuck nippt hastig an seinem Bier und schubst sich die riesige Brille zurück auf die Nasenwurzel. Er wird immer noch nervös, wenn er von dieser Nacht berichtet. Dabei sieht der Achtundfünfzigjährige mit dem freundlichen Kindergesicht und der feuerroten Baseballkappe nicht aus wie ein Spinner. Aber das tut kaum jemand im schummerigen Kneipenlicht des „Little A’Le’Inn“. Auch das Zechertrio nicht, das mit Chuck an der Theke steht und über das einzige Thema schwadroniert, das an diesem Ort im Great Basin von Nevada die Gemüter bewegt: fliegende Untertassen, fremde Galaxien und kosmische Konspirationen.

Die dralle Kathleen aus Ohio kaut gerade den letzten Bissen ihres „Alien Burgers“ und erzählt, daß ihr die besten Ufo-Fotos mit geschlossenen Augen gelängen. So spüre sie die Präsenz der Aliens am intensivsten. Und während Donald mit der Ironieferne eines Finanzbeamten die Vorteile von Plasmawaffen gegenüber Laserkanonen erläutert, bestellt sich Devin einen dritten „Beam Me Up Scotty“. Der gefährliche Hausdrink besteht zu je einem Drittel aus Jim-Beam-Whiskey, 7Up-Limonade und Scotch und hat schon manchem geholfen, den Boden der Realität vollends unter den Füßen zu verlieren.

Vor der Bar hängt ein Schild, das mit einem avokadokernäugigen Marsmenschen und der Aufschrift „Earthlings welcome“ um Kundschaft wirbt. Sie kommt über den Highway 375 hierher, der als eine der einsamsten Straßen Amerikas gilt. Rings um den weiß gestrichenen Holzbau des „Little A’Le’Inn“ ducken sich ein paar Dutzend Wohncontainer in den Staub des Tikaboo Valley. Die Agglomeration heißt Rachel und liegt zweihundertfünfzig Kilometer nördlich von Las Vegas. Schiefe Holztreppchen vor den Eingangstüren und umzäunte Vorgärten verraten, daß viele Bewohner nicht erst seit gestern hier hausen. Hunde bellen, amerikanische Flaggen knattern im Wind, die Luft ist trocken wie Papier. Die hundert Seelen der Einöde leben inmitten einer Steinwüste von hypnotischer Leere, ohne Straßen, ohne Fernsehempfang, ohne medizinische Versorgung. Die nächste Siedlung ist fast anderthalb Autostunden entfernt, wer frisches Gemüse will, muß nach Las Vegas fahren. Ein schlechter Ort für einen Herzinfarkt. Aber die beste Adresse, wenn es um außerirdische Sensationen geht: Nirgendwo werden mehr fliegende Untertassen gesichtet als in dieser Wildnis. Und das vor allem, seit hier ein paar Szenen des Hollywood-Reißers „Independence Day“ gedreht wurden. Der Staat Nevada verlieh der Tangente des Containerdorfs darum vor acht Jahren den Beinamen „Extraterrestrial Highway“.

Kurz vor Rachel, nahe des Highway-Meilenzeichens 29, gehen Ufo-Jäger aus aller Welt auf die Pirsch. Hier steht die legendäre „Black Mailbox“. Das Areal um den mittlerweile weiß gestrichenen Briefkasten des Farmers Steve Medlin hat unter Ufo-Spähern den Ruf eines Logenplatzes. Der Kalifornier Chuck Clark, der vor zehn Jahren mit einem Kofferraum voller Teleskope nach Rachel kam, starrt hier beinahe jede Nacht ins Sternengesprudel. Seine Beobachtungen gibt er später im „Little A’Le’Inn“ zum besten. An den Wänden der weltberühmten Ufologenpinte hängen Protokolle außerirdischer Landemanöver aus allen Teilen des Erdballs, zeugen Fotografien vom Besuch fliegender Untertassen von Haifa bis Hokkaido, von North Dakota bis Bachtelhörnli-Unterbachtel in der Schweiz. Daß alle Aufnahmen bar jeder Tiefenschärfe sind, scheint weniger als Manko denn als unerläßliches Echtheitszertifikat zu gelten. In einem Einmachglas dümpelt ein Alien-Embryo aus Wachs, in einer Regalwand reihen sich Bücher mit Titeln wie „Nasa, Nazis & JFK“ oder „Slime Falling from the Sky in America“ aneinander. Und natürlich dürfen an einem Platz wie diesem Devotionalien nicht fehlen. Schlüsselanhänger gibt es, Alienmasken und T-Shirts mit der Aufschrift „Ufos are real – the government doesn’t exist“.

„Ich habe da draußen alle und alles gesehen“, sagt Glenn Campbell, der bis vor kurzem in einer der Blechschachteln von Rachel residierte. „Die Exzentriker, die Paranoiden und die Leute, die ernsthaft glauben, von fliegenden Untertassen entführt worden zu sein.“ Dazu gehören Menschen wie das Ehepaar Hamilton, das von der Bekanntschaft mit einem Ufo-Kommandanten namens Quaylar berichtet, oder jener Kerl, der sich Merlin II nennt und behauptet, Botschafter des Sterns Alpha Draconis zu sein. Campbell spricht über den Ufo-Rummel von Rachel wie ein frühreifer Adoleszent über einen Kindergeburtstag. „Na klar, du kannst in dieser Gegend eine unheimliche Begegnung machen“, grinst der Computerprogrammierer aus Las Vegas. „Nachts auf dem Highway, wenn du mit einem von Rancher Medlins verirrten Rindern zusammenstößt.“ Und doch ist die Gegend um Rachel geheimnisvoll. Es liegt ein Schleier des Bedrohlichen über ihr. Campbell weiß dies selbst am besten. Schließlich war der Ketzer von diesem Schleier so gefesselt, daß er jahrelang alles daransetzte, ihn zu lüften.

Etwa vierzig Kilometer südlich von Rachel bohrt sich das Tikaboo Valley wie ein Stachel in die Flanke eines mysteriösen militärischen Sperrgebiets. Der Stützpunkt der US Air Force ist Teil eines Waffenreservats von der Größe Bayerns und versteckt sich hinter den karamelbraunen Erdfalten einer mit Wachposten, Sensoren und Hubschrauberpatrouillen abgeriegelten Hügelkette. Auf Landkarten wird das Areal als unvermessen ausgewiesen. Und erst 2001 bestätigte das Weiße Haus die Existenz einer „Installation“ in dieser Gegend. Russische Satellitenfotos ließen der Regierung keine andere Wahl. Einen offiziellen Namen für die in den fünfziger Jahren geschaffene Zone um den Groom Lake, das Trockenbett eines Salzsees, gibt es bis heute nicht. 1995 verbot das Luftwaffenministerium sogar in einer kafkaesk anmutenden Geheimhaltungsvorschrift jede Spekulation über das Territorium, das in Anlehnung an einen alten Plan für Atombombentests als „Area 51“ bezeichnet wird.

Glenn Campbell hat sich um dieses Verbot nie geschert. Er hat das vor zweieinhalb Jahren aufgelöste „Area 51 Research Center“ ins Leben gerufen, eine Art Baedeker für Hobbyspione über die Geheimbasis geschrieben und eine Zeitschrift mit aktuellen Informationen zum Thema herausgegeben. Und er hat die Funkfrequenz ermittelt, über die sich täglich mehrere Flugzeuge vom Typ Boeing 737 beim Tower am Groom Lake anmelden. Die unmarkierten Maschinen transportieren einen Teil der tausendfünfhundert Arbeiter der „Area 51“ von einem streng abgeschirmten Terminal des Flughafens von Las Vegas in die Wüste. Ihren Zielort nennen die Piloten beim Landeanflug „Dreamland“ oder „Watertown“, „Paradise Ranch“ oder „Dark Side of the Moon“.

Wer vom Gipfel des Tikaboo Peak durch ein Teleobjektiv auf die Anlage blickt, katapultiert sich zurück in die Zeit des Kalten Krieges. Ockerfarbene Gebäude sind erkennbar, turmhohe Satellitenschüsseln, riesige Treibstofftanks und ein Hangar, in dem man zwei Jumbo-Jets übereinander stapeln könnte. Es ist eine Halle von absurder Größe. Wozu dient sie? Und warum gibt es hier die mit fast zehn Kilometer Länge längste Landebahn der Erde? Kein je gebautes Flugzeug benötigt auch nur annähernd soviel Platz. Sogar die Weltraumfähre Space Shuttle kommt mit der Hälfte aus.

Nachts wabert hin und wieder ein fluoreszierendes Leuchten über der „Area 51“ und den umliegenden Berghängen. Das kalte Licht sieht dann aus wie eine Illumination des Bösen, wie das Menetekel einer unheilvollen Zukunft. Dabei ist die Gegenwart beklemmend genug – oder das, was man von ihr weiß. Experten sind überzeugt, daß der Rüstungskonzern Lockheed hier schwarze, vom Kongreß in Washington kaum kontrollierbare Spionageprogramme entwickelt. Bis heute gilt die Firma neben dem Geheimdienst CIA als der eigentliche Hausherr am Groom Lake. Unwidersprochen ist, daß hier 1954 zum ersten Mal das sagenumwobene Spionageflugzeug U-2 startete, dessen Abschuß über der Sowjetunion 1960 eine Weltkrise heraufbeschwor. Kurze Zeit später wurde die A-12 flügge, ein Monster mit garagentorgroßen Triebwerkseinlässen, das dreifache Schallgeschwindigkeit erreichte, Nordvietnam ausspähte und das Land in nur zwölfeinhalb Minuten überflog. Und auch die furchterregend schönen, wie fliegende Rochen aussehenden Tarnkappenbomber mit einer Spezialglasur gegen Radarwellen sind Ausgeburten der Militärbasis. Derzeit, so vermuten Kenner, tüfteln Wissenschaftler an der „Aurora“, einem Flugzeug, das mit achtfacher Schallgeschwindigkeit fliegen soll und in drei Stunden jeden Punkt des Planeten erreichen kann. Doch sie glauben auch, daß selbst in Jahrzehnten nicht die Hälfte von dem bekannt sein wird, woran man heute in der „Area 51“ arbeitet.

Die Ufologengemeinde von Rachel hingegen weiß mehr. Sie verehrt nämlich Robert Lazar, jenen Mann, der 1989 im Fernsehen erzählte, daß er als Physiker in der „Area 51“ gearbeitet habe. In unterirdischen Labors will er an der Analyse des Antriebssystems fliegender Untertassen teilgenommen haben. Neun Aggregate sollen dort in verzweigten Tunnelsystemen lagern. Als Beweis präsentierte er Gehaltsstreifen der Regierung und eine Skizze eines der Flugobjekte. Sie hängt heute als Plakat neben der Toilettentür des „Little A’Le’Inn“. Daß die Glaubwürdigkeit des Kronzeugen wegen gefälschter Dokumente Risse bekam, ficht Stammgäste wie Chuck Clark nicht an. Sie sind sicher, daß Lazars Ufos auf jene ominösen Maschinenteile zurückgehen, die 1947 bei Roswell in New Mexico vom Himmel gefallen sein sollen – ein Ereignis, das für Ufo-Gläubige so emblematische Bedeutung besitzt wie das Wunder von Lourdes für Marienverehrer.

Die Spekulationen im „Little A’Le’Inn“ nehmen daher kein Ende. Wilde Purzelbäume der Phantasie, wohin man hört. Die Rede ist von regelmäßig in der Militärbasis landenden Außerirdischen, denen die Air Force überlebenswichtiges Arsen verkaufe, und von einem Alien namens Jarod, der als Übersetzer zwischen den Welten fungiere. Man debattiert über Zeitreisende aus der Zukunft und über Strahlenwaffen zur Bewußtseinskontrolle und über einen fingierten Ufo-Angriff auf die Erde. Mit dem nämlich wolle eine Phalanx aus Regierung, CIA und Außerirdischen den Weltfrieden herstellen. Es wird einem ganz schwindelig, auch ohne „Beam Me Up Scotty“.

Über Rachel bricht langsam die Nacht herein. Der Sonnenuntergang koloriert den Himmel wie ein gewaltiges, in allen Farben schillerndes Kirchenfenster. Chuck trägt gerade Proviant und ein armlanges Teleskop zu seinem Pritschenwagen. Gleich wird er wieder an der Black Mailbox auf der Lauer liegen. „Heute komme ich den Kerlen auf die Schliche, ich hab’s im Gefühl“, ruft er noch aus dem Auto, als er auf den Highway rollt. Sein Kumpel Devin winkt ihm nachdenklich hinterher. Der Alkohol des vergangenen Abends hat ihm sichtbar zugesetzt. Auch er hat ungereimte Dinge am Firmament gesehen und von rätselhaften Vorfällen gehört. Und alle erscheinen sie ihm als zu absonderlich, um an Testflüge der Air-Force glauben zu können. Doch mittlerweile sieht sich Devin am Ziel seiner vielen, ein ums andere Mal verworfenen Exegesen. „Wenn alle diese Phänomene von fliegenden Untertassen stammen“, holt er zur endgültigen Ufo-Theorie aus, die in den Ohren der verschwörerischen Sterndeuter des „Little A’Le’Inn“ nach blankem Anarchismus klingt, „dann können die Apparate nur von einem Haufen Halbstarker gesteuert werden. Von außerirdischen Witzbolden, die einer intelligenteren Spezies die Flitzer klauen, um damit Spritztouren durchs All zu machen.“ Devin klopft sich grinsend auf die Brust. Sein T-Shirt ziert einer dieser typischen Eierköpfe, der mit seinen Insektenaugen an eine überdimensionierte Stubenfliege erinnert. „Jetzt mal im Ernst“, resümiert er, „sehen sie nicht eigentlich völlig beknackt aus, diese Aliens?“