24 Feb „Kunst ist ein Abenteuer“
Karriereführer, 2011
Interview mit Hubertus Meyer-Burckhardt
„Kunst ist ein Abenteuer“
Kassel ist dieses Jahr wieder Schauplatz der weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst – bis zum 16. September findet dort die 13. Documenta statt. Für Sie als Kasseler bestimmt ein ganz besonderer Sommer …
… Halt, halt, halt. Hier muss ich gleich einhaken und Grundsätzliches klären. Meine Heimatstadt unterscheidet ja drei Typen von Bürgern. Die noblen sind die Kasseläner, die genauso in Kassel geboren wurden wie ihre beiden Elternteile. Wenn nur einer der beiden Eltern nicht in Kassel geboren wurde, ist man Kasselaner. Und schließlich gibt es die Kasseler, die lediglich zugezogen sind und die beiden ersten Bezeichnungen auf ewig verwirkt haben. Das trifft auf mich nicht zu. Ich bin waschechter Kasselaner!
Was Carolyn Christov-Bakargiev nicht von sich behaupten kann. Die hat bulgarisch-italienisch-amerikanische Wurzeln und ist dieses Mal die künstlerische Leiterin der Documenta. Geht es nach ihr, ist die Kunst ein Ort, um Fragen zu stellen, nicht um Antworten zu geben. Was denken Sie? Hat sie Recht?
Mit dieser Sichtweise kann ich eine Menge anfangen. Aber wissen Sie was? Ich betrachte mich als Kunstliebhaber, nicht als Kunstkenner. Und als solcher ist die Kunst für mich in erster Linie ein großes Abenteuer und ein Grundnahrungsmittel. Seit 1977 habe ich jede Documenta mit einer Art kindlichen Unschuld besucht und Spaß dabei gehabt. Überhaupt glaube ich, dass diese unbefangene Herangehensweise nicht nur eine ausgezeichnete Attitüde ist, durch Kunstausstellungen zu wandern. Sie hat sich auch in vielen anderen Situationen meines Lebens als wunderbare Voraussetzung erwiesen, prägende Erfahrungen zu machen.
Das heißt, Kunst weitet Ihren Horizont?
Richtig. Kunst bereichert mich, verblüfft mich, bringt mich auf neue Gedanken.
Aber worin unterscheidet sich dann die Beschäftigung mit bildender Kunst von anderen Bausteinen kultureller Allgemeinbildung?
Das kann ich so genau nicht sagen. Aber ich kann sagen, wo ich den Kern jener Faszination vermute, die Kunst schon seit frühester Kindheit auf mich ausübt und wegen der ich womöglich Film-Produzent geworden bin. Dieser Kern liegt wohl im Umstand, dass da Menschen etwas veranstalten, was keinen offenkundigen Sinn ergibt. Dass Menschen das Kostbarste geben, was sie haben, nämlich ihre Lebenszeit, um etwas zu tun, was dem Effizienzgedanken nicht gehorcht: das fasziniert!
Der kolumbianische Aphoristiker Nicolás Gómez Dávila hat einmal geschrieben, die Tiefe sei das Opfer, das die Effizienz fordert.
Da ist viel dran. Aber so bedeutungsschwer meine ich das gar nicht. Wenn Menschen aus einem inneren Antrieb heraus etwas machen – egal, wie vernünftig oder unvernünftig das ist –, dann mag ich das einfach. Das kann ein Flohzirkus sein, der echte Zirkus, irgendeine Komödie am Kurfürstendamm, eine Peer-Gynt-Inszenierung in Bochum oder eben die Documenta. Ich gehe auch immer wieder zu Rockkonzerten, wo Musiker auf der Bühne stehen, die meine Söhne sein könnten, und deren Musik ich manchmal gar nicht kapiere. Trotzdem kann mich das begeistern.
Weil die Kunst eine Welt für sich ist?
Bestimmt. Und das zu akzeptieren ist sicher wichtig für die kindliche Freude an ihr. Dazu kommt, dass es streng genommen gar keinen Unterschied gibt zwischen dem Besuch der Documenta und dem Besuch eines Boxkampfs. Denn die wesentlichen Voraussetzungen sind bei beiden Veranstaltungen gleich. Sie setzen sich irgendwo hin, treten einen Schritt aus dem Alltag heraus und stellen sich Fragen. Die mögen bei der Kunst gewichtiger sein als beim Boxkampf. Aber letztlich schauen Sie doch bei beiden einfach mal, was da passiert. Mir bereitet das Vergnügen. Auch, wenn ich etwas nicht begreife. Vielleicht dann sogar besonders.
Das erinnert an die anarchistische Kraft des Nonsens, ohne die Humor jenseits platter Witze gar nicht auskommt, oder? Man muss ja bloß mal an die britische Komikertruppe Monty Python denken, deren Sketche immer etwas Absurdes haben, das sich nicht auflösen lässt …
So ist es. Und wenn ich ihren Gedanken verlängere, dann fällt mir gleich der vertikale Erdkilometer ein, der 1977 während der sechsten Documenta entstand.
Der Amerikaner Walter de Maria bohrte damals einen Kilometer tief in die Erde und füllte das Loch mit ineinander gesteckten Messingstäben auf. Das Werk war praktisch unsichtbar und sollte darauf verweisen, dass unsere Vorstellungen vom Weltganzen immer noch irrational sind.
Bei diesem Ding habe ich zwei Kategorien von Menschen nicht verstanden: Zum einen jene Nörgler, die sofort schmallippig lospolterten und meinten, das sei niemals Kunst. Und zum anderen die Bewunderer, die sagten, dass gerade das jetzt Kunst sei. Ich stand dazwischen und dachte: Ich finde diese Aktion vor allem interessant. Aber ich will sie nicht bewerten. Und je älter ich werde, desto weniger möchte ich das. Ich erziehe mich da zu einer Art betagtem Buddhisten, der bei diesen ständigen Beurteilungen nicht mitmacht. Gerade in Fragen der Kunst halte ich das für besonders wichtig.
Im Alltag hat man es ja eher mit Design zu tun als mit Kunst. Doch beides überschneidet sich nicht selten. Ein Beispiel ist die berühmte Zitronenpresse von Phillipe Starck, die ja ein typisches Kunstprodukt ist: Zu allem ist das spinnenbeinige Ding zu gebrauchen – fürs Saftpressen sicher nicht. Wo hört denn Design auf, wo fängt Kunst an?
Wenn ich das so genau wüsste! Ich glaube wirklich, dass die Grenzen fließend sind. Wenn ich auf der Autobahn bin und diese Lastwagen von Renault sehe, dann finde ich deren Fahrerkabinen ganz bemerkenswert ästhetisch. Zwar müssen diese LKWs technischen Effizienzanforderungen gehorchen. Aber der Mensch, der diese Karosserie entworfen hat, besitzt gleichwohl eine große künstlerische Begabung.
Offenbar bringen diese Renaults etwas in Ihnen zum Klingen, was ein Mercedes-Laster nicht schafft. Vielleicht offenbart sich da ja der Berührungspunkt von Design und Kunst, ein Punkt, ab dem Kunst zum Leben erwacht?
Gut möglich. Aber auch, wenn da nichts in mir anklingt, kann es Kunst sein. So wie bei den aneinander gelehnten riesigen Stahlplatten von Richard Serra. Auch die sind eine Erinnerung an die Documenta von 1977. Schon die Baukräne haben fast alle in Kassel vergrätzt. Und dann verkam die Skulptur auch noch zum Pissoir. Das Gezeter war enorm. Aber die Tatsache, dass ich das Künstlerische nicht erkenne, heißt ja nicht, dass Serra kein Künstler ist.
Niemand versteht die Kunst außer dem Künstler, hat der amerikanische Bildhauer David Smith einmal gesagt.
Ja. Und deswegen sollte man sich auch zurücknehmen. Kunst funktioniert für mich wie instrumentale Musik, die ihr letztes Geheimnis nicht preisgibt. Sie fasziniert und regt an und gehorcht keinen objektiven Kriterien. Kunst ist für mich rein assoziativ.
In der NDR-Talkshow interviewten Sie vergangenen September die Kölner Künstlerin Mary Bauermeister. Sie sprach davon, dass die Kunst verkrusteten Gesellschaften mit Anarchie zu Leibe zu rücken habe. In chaotischen Zeiten wie der unseren jedoch falle der Kunst eher eine ordnende Aufgabe zu. Sehen Sie das auch so? Und wo wäre sie heute besonders gefragt?
Ich glaube, dass Mary Bauermeister Recht hat, was die zerstörerische Aufgabe der Kunst betrifft. Die Wucht, mit der ein Joseph Beuys damals in der Kunstszene und darüber hinaus für Furore sorgte, war schon sehr wichtig. Dabei sehe ich es übrigens als Glücksfall, dass der ein Katholik vom Niederrhein war und einen entsprechend schalkhaften Humor hatte. Aber ich bin nicht der Kunsthistoriker, der sagen könnte, in welcher Phase wir uns gerade befinden und ob das eine ist, in der wieder viel geordnet werden müsste. Gerade mit Blick auf junge Menschen bin ich da sogar eher skeptisch. Mir scheint, dass bei denen oft ein materialistisches und ziemlich konservatives Weltbild vorliegt, dem es gerade an Unordnung, an Risikobereitschaft, an Abenteuergeist mangelt. In meiner Generation gingen ja nur die totalen Loser zur Bank. Oder die angehenden Juristen und Wirtschaftsprüfer damals – down and out waren die! Und heute? Heute gehen sie zu PWC oder McKinsey und sind die Könige!
Demnach mangelt es der jungen Generation also an einer künstlerischen Attitüde, die sich ja dem Mainstream eher versagt, als ihn zu bestätigen?
Genau. Soweit ich das beurteilen kann, fehlt es jungen Leuten manchmal am Wagnis, die Dinge auf eine ganz eigene, unverwechselbare Weise zu sehen. Mir kommt es so vor, als ginge ihnen vielfach der Wille ab, das große Thema ihres Lebens zu suchen und zu entdecken und sich dem dann mit Leidenschaft, ein bisschen Provokation und einer möglichst persönlichen Handschrift zu widmen. Wie Sie ganz richtig andeuten, sind das alles Facetten einer selbstbewussten Haltung, ohne die wahre Kunst gar nicht denkbar ist. Und deswegen bin ich davon überzeugt, dass junge Menschen viel von der Kunst lernen, dass sie sich an deren Chuzpe ein Beispiel nehmen können.
Als Dozent der Hamburg Media School unterrichten Sie auch hin und wieder in Kalkutta an einer kooperierenden Filmhochschule. Wie fällt Ihre Diagnose denn in Indien aus? Gleichen sich die Dinge in Zeiten der Globalisierung an – auch und vor allem hinsichtlich der Kunst, der Kultur, der Karriere?
Nicht sonderlich. Ich erlebe die indische Kultur als unglaublich vital und eigenständig. In Kalkutta schlägt sich das auch in einer anspruchsvollen Filmkultur nieder, die sich deutlich von den Massenproduktionen Bollywoods abhebt. Kalkutta ist immer noch das Armenhaus Indiens, aber gleichzeitig auch seine intellektuelle Hauptstadt. Die Stadt wird von einer unerbittlichen Leistungsbereitschaft und einem schrillen Optimismus angetrieben. Und sie steckt wie eigentlich alles in Indien voller Rätsel und Widersprüche.
So wie die Documenta?
Richtig, so wie die Documenta! Wenn Sie so wollen, schließt sich hier der Kreis. Ein Besuch Kalkuttas ist für mich in der Tat ein ähnlich großes Abenteuer wie ein Besuch der Documenta in Kassel. An beiden Orten kommen Sie an und verstehen erst einmal gar nichts. Aber dieses Nicht-Verstehen lässt sich wunderbar genießen!