Vankong-Boom
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Vankong-Boom

FAZ, 2005

Vankong-Boom

 

Die Zukunft ist kein schwarzer Lack: Wie die Hongkong-Chinesen das Kommando in Vancouver übernehmen

Eigentlich war es ein Pressetermin wie jeder andere. Schilder wiesen den Weg durch das Foyer, im Konferenzraum standen Kaffee und Limonade bereit, auf den herumliegenden Notizblöcken und Plastikkugelschreibern leuchtete das feuerrote Ahornlogo der Liberalen Partei Kanadas. Im Kampf um einen Parlamentssitz hatte ihr Mitglied Raymond Chan die Presse in einen der Hoteltürme von Vancouver gebeten. Gekommen waren Journalisten von vier Tageszeitungen, drei Radiostationen, zwei Fernsehsendern und einer Handvoll Stadtgazetten. Dass sie alle wie Chan chinesischer Abstammung waren, versetzte niemanden in Erstaunen. Dass aber ausschließlich chinesische Medien eine Einladung erhielten, war neu in Vancouvers politischer Sphäre

Und so fiel während der gesamten Veranstaltung nicht ein einziges englisches Wort. Abwechselnd in Mandarin und Kantonesisch referierte Chan über die Besteuerung von Auslandsgewinnen, über die Förderung von Immigranten, über Sinn und Unsinn gleichgeschlechtlicher Ehen. Ganz zum Schluß meldete sich eine Reporterin der „Global Chinese Press“. Wie ihre Kollegen zuvor stand sie auf, verbeugte sich und fragte den Politiker, was seiner Meinung nach getan werden könne, um den Niedergang von Vancouvers Chinatown zu stoppen. Die Frage lag ebenso nahe, wie sie befremdend wirkte, und ließ den seit sechsunddreißig Jahren in Vancouver lebenden Hongkong-Chinesen verstummen. Raymond Chan lächelte. Zu sagen wusste er nichts.

Nirgendwo außerhalb Asiens leben mehr Chinesen als in Vancouver. Mittlerweile spricht jeder vierte Haushalt im multikulturellen Laboratorium der westkanadischen Metropole chinesisch. Den größten Ansturm erlebte das einstige Holzfällerkaff an der Küste British Columbias in den neunziger Jahren, als eine Viertelmillion Menschen aus China übersiedelte. Die meisten von ihnen kamen aus Hongkong. Die Angst vor der Rückgabe der britischen Kolonie an Rotchina trieb sie über den Pazifik. „Hongcouver“ und „Vankong“ heißen seitdem die Spitznamen der Stadt. Und „im Herdentrieb“ – so formulierte damals die größte Tageszeitung der Stadt mit ihren knapp zwei Millionen Einwohnern – folgten ihnen Zehntausende von Taiwanern. Auch sie flohen vor dem ständigen Säbelrasseln Pekings.

Die Massen haben das Gesicht Vancouvers verändert. Entlang der vornehmen Robson Street sieht man Hundertschaften chinesischer Mädchen in ihre Mobiltelefone kichern. Asiatische Halbstarke paradieren am Steuer ihrer Luxuscabrios. Damen in eleganten Kostümen sind auf dem Weg zum nächsten rein chinesischen Meeting oder stöbern in einer der vielen Designerboutiquen. In den Cafés überfliegen Geschäftsleute die fett gedruckten Schriftzeichen kantonesischer Zeitungen. Zuweilen wähnt man sich auf einer von Schanghais neureichen Einkaufsmeilen und nicht mehr in der westlichen Hemisphäre.

Der augenfällige Wohlstand hat seinen Grund. Denn anders als zu Zeiten der ersten chinesischen Einwanderer, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts die Canadian Pacific Railway bauten, kamen hundert Jahre später vermögende und hervorragend gebildete Geschäftsleute. Sie strandeten nicht wie ihre bitterarmen Vorgänger nach der Fertigstellung der Eisenbahnstrecke als Kulis in einer von rassistischen Pogromen heimgesuchten Chinatown, sondern verwandelten Vancouver in einen der bedeutendsten Brückenköpfe asiatischer Wirtschaftskraft. Fast jeder vierte von ihnen kaufte sich buchstäblich ein: Wer mindestens eine Viertelmillion Dollar in Arbeitsplätze schaffende Projekte investierte, hatte nach einem damals eigens verabschiedeten Einwanderergesetz Anrecht auf die kanadische Staatsbürgerschaft. Angesichts der politischen Imponderabilien ihrer Heimat war ein Paß mit dem Ahornblatt für viele ein verlockendes Angebot.

Um Chinatown machten diese Einwanderer allerdings einen ebenso großen Bogen wie die Neuankömmlinge vom chinesischen Festland, die derzeit in die Stadt strömen. Ihr zur Schau gestelltes Selbstbewusstsein steht im scharfen Kontrast zur desolaten Lage der mit hunderttausend Einwohnern nach San Francisco und New York drittgrößten Chinatown Nordamerikas, in der aber mittlerweile weniger als zwanzig Prozent aller Chinesen Vancouvers wohnen. Nicht nur die Einheimischen, sondern auch mehr und mehr Touristen meiden den Bezirk mit seinen bizarren Läden, Garküchen und Restaurants. Zwar kann man hier immer noch allerorten getrocknete Seepferdchen, Schlangen und Berge lebender Krebse kaufen, sieht in Schaufenstern gebratene Enten wie Laternen hängen und wandert im Schein knallrot gestrichener, mit goldenen Drachen verzierter Straßenlampen umher. Doch die pittoresken Eindrücke verblassen schnell.

Schon bald fällt auf, dass es hier fast nur noch Greise gibt und eine Armee des Elends von Chinatown Besitz ergreift. Die Tausenden Drogenabhängigen und Straßenmädchen des angrenzenden Problemviertels Downtown Eastside ignorieren zunehmend ein ungeschriebenes Gesetz, das sie jahrelang davon abhielt, nach Chinatown vorzudringen. Immer weiter schreitet die Überalterung und Verwahrlosung des Gebiets voran, immer schneller gehen im Viertel mit dem einst buntesten Nachtleben der Stadt die Lichter aus. Eine Rettung scheint nicht in Sicht. Und von den chinesischen Vancouveranern ist erst recht keine Hilfe zu erwarten, so paradox das auch sein mag: Kaum eine Bevölkerungsgruppe Vancouvers steht dem Untergang Chinatowns gleichgültiger gegenüber als gerade die Chinesen.

Probleme haben manche Neukanadier eher mit sich selbst, weiß Helen Huang. Die promovierte Psychologin ist eine Frau mit erstaunlich guter Laune, denn ihr Geschäft ist die Schwermut. In Vancouver hat sie das erste Kummertelefon für Chinesen auf dem nordamerikanischen Kontinent eingerichtet. In einem Gewerbegebiet sitzen zwei ihrer Mitarbeiter in einem mit Zetteln vollgepinnten Büroraum und hören den Notleidenden zu – der eine bedient eine Hotline auf Mandarin, der andere auf Kantonesisch. Zwei Drittel ihrer Klientel seien Frauen von „Astronauten“, sagt Huang. So nennt man hier die frischgebackenen Kanadier, die bald wieder in ihre alte Heimat Hongkong verschwanden, als sie begriffen, dass der Rückgabeprozess glimpflich verlief und die Gewinne auf der anderen Seite des Pazifiks sogar noch größer zu werden versprachen als in Kanada. Sie behielten den neuen Pass als eine Art Versicherungspolice und ließen ihre Frauen in Vancouver zurück. Die köpfen nun Champagnerflaschen auf ihren Yachten, langweilen sich stilbewusst oder blasen Trübsal. Die Damen plagten vor allem Beziehungsprobleme, sagt die Koordinatorin der städtisch finanzierten „Chinese crisis line“, Männer kämpften mehr mit Schwierigkeiten im Job.

Helen Huangs Klienten sitzen in den neuen Chinatowns von Vancouver. Sie heißen Richmond oder Kerrisdale, Burnaby oder Coquitlam. Dort und anderswo hat die Nachfrage asiatischer Neubürger die Immobilienpreise höher klettern lassen als in irgendeiner anderen Stadt des Landes. Noch bis vor kurzem seien Hongkonger gemeinsam mit ihren Maklern in Hubschraubern zu regelrechten Einkaufstouren über die Stadt aufgebrochen, erzählt man sich. Die Preise für Häuser und Grundstücke empfinden die arrivierten Neuankömmlinge als nahezu geschenkt – für kanadische Durchschnittsfamilien indes sind sie praktisch unbezahlbar geworden. Den Traum vom eigenen Haus mussten die meisten von ihnen begraben.

Bis heute werden die Regenwaldhänge von West Vancouver abgeholzt, um Platz für die „Monster Homes“ zu schaffen, riesige Protzvillen, von denen man einen grandiosen Blick über die Skyline und den Hafen hat. Nicht zufällig erinnert die Aussicht an Hongkong. Viele Bewohner haben so ihre eigenen Projekte stets im Auge: Mehr als achtzig Prozent der in den vergangenen Jahren gebauten Glaspaläste der City sind in der Hand der „investor immigrants“. Dort unten, in den Straßenschluchten auf der Halbinsel Burrard Inlet, hält ein Teil der fünfzehntausend Obdachlosen der Boomtown Vancouver die Hand auf. Viele von ihnen sind jung und blond und sehen aus, als wären sie jäh von irgendeiner Karriereleiter gestürzt. Bittsteller mit asiatischen Gesichtszügen sucht man unter ihnen vergebens.

Die Furcht der „Kaukasier“, wie die Weißen hier genannt werden, selbst zu einer Minderheit zu werden, ist groß. Der Zukunftsforscher Frank Ogden kann das verstehen. Er sieht das traditionelle Weltbild der Hauptstadt British Columbias mit ihren Tudorstil-Häuschen und possierlichen Vorgärten völlig aus den Fugen geraten. Vancouver sei auf dem Sprung zu einer asiatischen, von unbändigem Leistungswillen geprägten Stadt: „Bald werden sich einheimische Geschäftsleute Schlitzaugen operieren lassen, um besser hineinzupassen“, orakelt er. Ein unterschwelliges Unbehagen in der Bevölkerung ist nicht zu verhehlen, auch Handgreiflichkeiten sollen schon vorgekommen sein. Ernstzunehmende Ausschreitungen jedoch bleiben aus im kanadischen „Mosaik“, das den Minderheiten großen Spielraum für ihre Eigenarten lässt und sich bewusst vom amerikanischen Schmelztiegel abheben will.

Natürlich wissen die meisten Vancouveraner genau, dass in ihrem Wirtschaftskreislauf chinesische Dollarmilliarden fließen, die allen zugutekommen. In der Bauindustrie, im Dienstleistungssektor, im verarbeitenden Gewerbe, in der Telekommunikation – überall wurden Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen. Vielen Kanadiern fällt es dank dieser Segnungen leichter, Immigranten zu akzeptieren, die sich nicht wie frühere Einwanderergenerationen schnell anpassen, sondern erstmals ihrerseits als prägende Kraft auftreten. So führt die Bildungsreise von angehenden Akademikern vor dem Studium heute oftmals nicht ins Europa der Väter, sondern nach Asien.

Mögen Auseinandersetzungen zwischen Weißen und Asiaten die Ausnahme sein, innerhalb der chinesisch-sprachigen Bevölkerung gehören sie zum Alltag. Sprache, Werte, Klasse, Lebensstil, das alles trennt, schafft Vorurteile, stiftet Animositäten. Altchinesen wollen zum Beispiel im gartenverrückten Vancouver nicht mit den Neuankömmlingen in einen Topf geworfen werden, die ihre Grundstücke von jeglichem Grün befreien und deren Domizile grob und unvermittelt über den Nachbarhäusern thronen. Umgekehrt blicken diese auf Alteingesessene herab, die kaum noch chinesisch sprechen und westliche Sitten angenommen haben. „Bananen“ seien sie, spötteln die Neuen, außen gelb und innen weiß.

Fast durch und durch gelb sind Viertel wie Richmond, die wichtigste neue Chinatown Vancouvers. Sie sieht aus, als hätte man sie gerade von einer riesigen Zellophanfolie befreit. Vor Jahren wogten hier noch Weizenfelder im Seewind, heute gleiten Chinesen mit Versace-Sonnenbrillen in deutschen Nobelautos durch ein aseptisches Sammelsurium aus Einfamilienhäusern, Hoteltürmen und Gewerbehallen. Ab und zu erhebt sich ein gigantischer buddhistischer Tempel mit weit ausschwingendem Pagodendach aus dem Vorort, als wolle er den gläsernen Verkaufspalästen von Porsche, BMW und Mercedes die Stirn bieten. Manche Vancouveraner sagen, im knapp zweihunderttausend Einwohner zählenden Richmond sei deswegen jeder zweite ein Chinese, weil ihnen die Silbe „rich“ so sehr gefalle. Ob das stimmt, weiß man nicht. Was man aber weiß, ist, dass hier die chinesische Glücksziffer „8“ möglichst in jeder Haus-, Telefon- und Kreditkartennummer auftaucht und dass hier die meisten Kathedralen der Neukanadier zu finden sind: die Shopping Malls.

Die älteste von einem Dutzend Supermalls zwischen der Cambie und der No. 3 Road ist das Aberdeen Centre. Wer es betritt, wähnt sich in Schanghai, Hongkong oder Chengdu. Erst vor kurzem hat man die Ladenschilder zusätzlich auf Englisch beschriftet, um dem Vorwurf der Lokalpresse zu entgehen, Weiße seien hier unerwünscht. Es ist trotzdem kein einziger zu sehen. Die Riesenmall ist eine geschlossene chinesische Welt à la moderne. Es gibt Dim-Sum-Restaurants und Bowlingbahnen, Kinos zeigen populäre Filme aus Kanton, in den Geschäften findet man von lebenden Fröschen und obskuren Arzneien bis zu Prada-Kostümen alles. Das Zentrum sei ein Spiegel chinesischer Energie und nicht so öde wie die nordamerikanischen Malls mit ihren ewig selben Modeketten, sagt Sassuan Lee, der im vierten Stock ein gutgehendes Büro für Feng-Shui-Beratung und Wahrsagedienste betreibt. Das mag stimmen. Aber geheimnisvoll und verwunschen wie in Chinatown ist hier nichts. „A mall is a mall after all“, reimt der eher ernste Herr Lee und versucht ein verschmitztes Lächeln.

Shopping Malls wie dem Aberdeen Centre gehören die Zukunft. Ob aber auch Chinatown eine Zukunft hat, kann niemand sagen, weder Politiker wie Raymond Chan noch Propheten wie Sassuan Lee. Auch die Bewohner der vielen Altersheime Chinatowns zucken mit den Achseln. „Vergangenes ist spiegelhell“, sagen sie, „aber die Zukunft ist dunkel wie schwarzer Lack.“