24 Feb Wir sind so frei. Oder doch nicht?
Süddeutsche Zeitung, 2012
Wir sind so frei. Oder doch nicht?
Dass Erfolg und Misserfolg eine Frage des Willens seien, glauben die meisten – schließlich gehen wir ganz selbstverständlich von der Existenz eines freien Willens aus. In Wahrheit aber handelt es sich bei ihm um eins der kniffligsten philosophischen Probleme.
Willensschwäche ist das Letzte, was man Nicholas Negroponte vorwerfen könnte. „One Laptop per Child“ heißt das Projekt, das der Professor des Massachusetts Institute of Technology (MIT) seit Jahren hartnäckig verfolgt. Die Idee: Mit der Produktion eines Klapprechners für nur 100 Dollar will er Kindern in Entwicklungsländern den Anschluss ans Internetzeitalter erleichtern. Drei Millionen seiner Bildungslaptops hat der Informatiker bereits an Schüler in 45 Staaten verteilt. Auch wenn es bislang nicht gelang, den Stückpreis auf 100 Dollar zu drücken – die Initiative ist ein Beleg für Negropontes unbändigen Willen, mit dem schon viele Bekanntschaft gemacht haben. Von Ingenieuren und Vertriebsspezialisten über Zulieferer und Politiker bis zur kommerziellen Konkurrenz. Negroponte: „Wenn sich Intel und Microsoft in deine Sache einmischen, weißt du, dass du etwas richtig machst.“
Was aber steckt hinter dieser Kraft, Dinge gegen Widerstände ins Rollen zu bringen? Ist es die Freiheit der Entscheidung für das Gute oder Schlechte? Oder wirken vielmehr Mechanismen, die sich unserem Bewusstsein entziehen und uns unweigerlich zur Tat treiben? Will Negroponte so handeln? Oder kann er gar nicht anders? Gibt es den freien Willen?
Der freie Wille? Eine Illusion!
Wer sich diesen Fragen widmet, schärft den Blick auf sich und seine Ziele. Und er befindet sich in Gesellschaft vieler Philosophen, Historiker und Wissenschaftler der vergangenen 2000 Jahre. Dabei erhält das Thema durch die Hirnforschung seit kurzem wieder neuen Zündstoff. Ihre These: Während wir noch überlegen, was wir tun sollen, hat unser Gehirn längst sein Machtwort gesprochen. Was wir subjektiv als unsere autonom getroffene Entscheidung empfinden, ist in Wirklichkeit nur die Vollzugsmeldung des Gehirns für eine längst eingeleitete Handlung. Entscheidungen würden durch neuronale Prozesse vorbereitet und unterlägen nur zum Teil einer bewussten Steuerung, meint der Wissenschaftler Wolf Singer – und erklärt den freien Willen zur Illusion.
Die Erkenntnisse der Neurobiologie wurden angestoßen durch ein Experiment des amerikanischen Physiologen Benjamin Libet in den achtziger Jahren. Er maß die Hirnströme von Probanden, die nach eigenem Ermessen die Hand bewegen und dabei genau den Moment angeben sollten, in dem sie die Entscheidung dazu fällten. Das Resultat: Die Bereitschaftspotenziale in den motorischen Arealen des Gehirns hatten sich bereits eine halbe Sekunde zuvor aufgebaut. Mehr als 20 Jahre später zeigen Kernspintomographen, dass die Areale sogar viel früher aktiv werden, bevor die Entscheidung bewusst erlebt wird – nämlich ganze zehn Sekunden.
Von der Magnetresonanztomographie hatte Arthur Schopenhauer keine Ahnung. Dennoch kam der Philosoph vor mehr als 150 Jahren zu ähnlichen Ergebnissen. „Der Mensch kann zwar tun was er will, aber er kann nicht wollen, was er will“, lautet sein berühmtes Diktum. So wie das Wasser je nach seinen Bedingungen notwendigerweise Wellen schlage, schäumend herabstürze, verdampfe oder einfach nur still daliege, folge auch der Mensch Handlungsursachen, die keine Alternativen zulassen. Wo Kant und Hegel idealistisch die Vernunft betonen, waltet bei Schopenhauer ein dunkler, metaphysischer Wille, der als angeborener Charakter Gestalt annimmt: ein sinnfreier Daseinsdrang, gegen den jede Rationalität machtlos ist.
Denken macht frei
Die Hirnforscher von heute gleichen modernen Jüngern Schopenhauers. Doch haben sie und ihr deterministischer Ahnherr Recht? Ist es letztlich egal, ob wir uns bemühen oder nicht, da wir ja ohnehin alle Marionetten sind – einerlei, ob wir an einem ominösen Willen hängen oder unseren Neuronen und Synapsen? Nein, meint der Philosoph Peter Bieri, der Determinismus und Freiheit als zwei Seiten derselben Medaille betrachtet. Wer ein Gemälde zerstückelt, mag etwas über das Material erfahren, hält er den Hirnforschern vor; aber er wird so niemals Aussagen über dessen Darstellung oder dessen Schönheit treffen können. Im selben Sinne suche man in der neurobiologischen Mechanik des Gehirns vergebens nach Freiheit oder Unfreiheit. „Das Gehirn ist der falsche logische Ort für diese Idee“.
Vielmehr sei von dem Paradox auszugehen, dass der freie Wille nur als bedingter Wille verstanden werden kann. Ein absolut unabhängiger Wille wäre schließlich unkontrollierbar und keine Erfahrung von Freiheit, sondern ein Alptraum. Das Wollen versteht Bieri als innere Kraft und determiniert durch die jeweilige Vorgeschichte des Menschen. Zu einem gewissen Zeitpunkt frage er sich, welche von mehreren Handlungsmöglichkeiten gewählt werden soll. Und während er nachdenke, ergreife der Wille von einer dieser Optionen Besitz. Dabei sei ein Wille umso freier, je mehr er von Nachdenken geleitet werde – und umso unfreier, je weniger dies zutreffe. Müssen wir uns demnach die Freiheit unseres Willens erarbeiten? Genau dies, meint Peter Bieri: „In dem Maße, in dem die Aneignung des Willens auf Artikulation und Verstehen beruht, handelt es sich um einen Erkenntnisprozess. Wachsende Erkenntnis bedeutet wachsende Freiheit. So gesehen ist Selbsterkenntnis ein Maß für Willensfreiheit.“ Dabei könnten uns Einflüsse wie etwa berufliche Zwänge sogar noch größere Freiheit bescheren – unter der Voraussetzung, dass sie verstärktes Nachdenken zur Folge haben.
So wie bei Nicholas Negroponte, den technologische Einflüsse seinem Ziel ganz nah gebracht haben. Bald will der MIT-Professor einen Tablet-PC für 99 Dollar präsentieren. Derzeit sucht er noch nach einem besonders robusten Material: Negroponte hat vor, die Geräte von Hubschraubern in der Nähe entlegener Dörfer abwerfen zu lassen. Wahrscheinlich dachte Leo Tolstoi an Männer wie ihn, als er die Willensfreiheit im bewussten Verstehen des eigenen Lebens erkannte. „Frei ist, wer sich als lebendig begreift“, schrieb der russische Dichter ganz im Sinne Bieris. „Und sich als lebendig begreifen heißt, das Gesetz seines Lebens zu begreifen, heißt, danach zu streben, das Gesetz des eigenen Lebens zu erfüllen.“