Für Raumfahrer
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Für Raumfahrer

GEO Special, 2010

Für Raumfahrer

 

Salar de Uyuni, unendliche Weite. Wer die größte Salzebene der Erde bereist, wird unwillkürlich von einer Frage überfallen: Ist die Zivilisation nur ein bisschen Gebrumm zwischen zwei Zeitaltern, in denen der Planet sich selbst genügt?

Mit asthmatischem Wiehern erwacht Fulgencios Geländewagen zum Leben. Es ist fünf Uhr morgens am Ortsrand von Uyuni im wilden Südwesten Boliviens. Während sich der Motor des alten Toyota warm rasselt, brodelt am Himmel noch das Gebräu der Sterne. Fulgencios Zeigefinger tippt in der Luft herum. Zwei Israelis zählt er, drei holländische Studentinnen und einen Australier. Mit hochgezogenen Goretex-Schultern sitzen sie in den weißen Schwaden ihres Atems. Minus zehn Grad. In den nächsten Tagen werde es noch viel kälter werden, informiert Fulgencio die Runde, und der Satz klingt nicht ironisch. Er klingt wie eine Drohung.

Kurt darauf prasselt Sand gegen den Fahrzeugboden. Das Lenkrad knapp vor der Brust, steuert Fulgencio seine bibbernde Fuhre im Sonnenaufgang über den Salar de Uyuni. Der Tagesbeginn auf der größten Salzebene der Erde ist der Auftakt eines Ausflugs in einen Rausch aus Licht und Farbe und maßlose Weite.

Als würde ein Film auf eine kolossale Leinwand projiziert, entfacht das Morgengrauen eine saphirblau wabernde Glut im Schwarz der Nacht, tränkt dann den Horizont mit sakralem Lila, lässt ihn später himbeerrot schimmern und gießt zum Schluss ein majestätisches Apricot über den Himmel, das so kräftig leuchtet, dass man meint, es riechen zu können. Die psychedelische Anmut der Dämmerung über dem Salar macht sprachlos; bis zum ersten Sonnenstrahl sagt niemand ein Wort.

In der Hochsaison überqueren täglich rund 30 Touristenjeeps die Salzwüste auf ihrem Weg ins geologische Märchenland des Nationalparks Eduardo Avaroa. Vier Tage dauert eine Tour, während der Männer wie Fulgencio Fahrer, Reiseführer und Koch in einem sind. Aber auch als Mechaniker müssen sie ran. Denn die Wagen sind moribunde Kisten. Das Salz zersetzt ihre Karosserien, frisst sich in die Motoren, zermürbt den Reifengummi. In jeder Pause kriecht Fulgencio mit einem Schraubenschlüssel unter sein Gefährt. Er weiß genau, dass eine Panne lebensgefährlich sein kann. Nach Sonnenuntergang fällt das Thermometer wie im Zeitraffer. Nachts sind minus 25 Grad keine Seltenheit.

Der Salar de Uyuni ist kein Ort für schwache Gemüter. Zu erbarmungslos wirkt die Erhabenheit, mit der er sich wie ein gigantisches Geheimnis auf dem Altiplano ausbreitet. Seine Salzkruste ist das Erbe eines ausgetrockneten Binnensees und rund zwölfmal so groß wie die Insel Rügen. Weißer als Schnee gleißt die Fläche inmitten einer gestirnhaften Überwelt. Auf Höhen bis rund 5000 Meter ragen Schichtvulkane gegen einen tintenblauen Weltraumhimmel an, fauchen Geysirfelder wie aus Nüstern unterirdischer Teufel, liegen Lavabrocken herum, als seien sie versteinerte Fabeltiere. Das alles nur eine Landschaft zu nennen, fällt schwer. Denn die Gegend wirkt wie eine Antithese der belebten Natur, in der Menschen nicht vorgesehen zu sein scheinen.

Wer hierher reist, bekommt eine Ahnung davon, dass die Zivilisationen nicht viel mehr sein könnten als ein bisschen Gebrumm zwischen zwei Zeitaltern, in denen der Planet sich selbst genügt.

Im Zentrum des Salar ragt die Isla Incahuasi wie eine Ritterburg in die Höhe. Je weiter man sich der Insel nähert, desto besser erkennt man, dass ihre gezackte Silhouette nicht von Zinnen, sondern von unzähligen Kakteen herrührt. Beim Gang auf den Gipfel klirrt zerbrochenes Lavagestein unter den Sohlen, als laufe man über Porzellanscherben. Und wer von oben über das Heer der Stachelpflanzen auf die zahnpastaweiße Ödnis und die wie Fingerknöchel hervorbrechenden Kegelvulkane schaut, der versteht, warum Menschen zum Salar de Uyuni kommen. Sie kommen, weil hier die Ordnungslinien der Welt zerfasern und metaphysische Kräfte zu walten scheinen. Sie kommen, weil ihre Köpfe sich hier leeren und gleichzeitig mit bizarren Bildern füllen wie auf einem Drogentrip.

Alle Jeeps statten der Isla Incahuasi einen Besuch ab, bevor sie den See in Richtung Chile verlassen und sich in einer Marslandschaft von grandioser Eintönigkeit verlieren. Stundenlang poltert Geröll gegen das Bodenblech, und jedes Gramm Fett am Körper zittert. Irgendwann tauchen farbig funkelnde Lagunen auf, als hätten Riesinnen ihre Colliers verloren. Die schönste ist die Laguna Colorada. Eingefasst von Bordüren aus grellweißem Gips, leuchtet sie von einem zarten Babyrosa bis zu tiefem Blutrot. Algen kolorieren ihr Wasser und locken Flamingos an, die zu Hunderten in den Fluten umherstaksen und nach Plankton fischen. Umgeben von Vulkanen ist ihr Anblick von bestürzender Schönheit. Er wirkt wie eine Szene aus einem Traum, dessen Bedeutung nicht klar wird.

Hin und wieder ziehen schlammfarbene Dörfer am Autofenster vorbei. Sie sind so unauffällig, als wären sie von selbst aus der Erde gewachsen. In manchen sieht man Schilder, auf denen mit rührender Verzweiflung um die Touristen gebuhlt wird. Dabei gibt es nirgendwo auch nur eine Limonade zu kaufen. Fulgencio nimmt nicht den Fuß vom Gas, wenn er mit einer Schleppe aus Staub durch die Siedlungen braust. Und so ergötzen sich seine Kunden an einem geologischen Spektakel von alttestamentarischer Wucht; von der Härte der ihm innewohnenden Existenzen jedoch erfahren sie nichts. Nichts von der Plackerei des Quinoa-Anbaus, der Andenhirse, die in Höhen über 4000 Meter gedeiht. Nichts von den Bergarbeitern, die die Kraft ihres Lebens im gelben Dampf der Schwefelminen verlieren. Und nichts von der Schufterei der Salzhacker, deren Augen von der aggressiven Lichtflut auf dem Salar zerstört werden.

Irineo Calizaya ist einer von ihnen. Einer jener Männer, die dem Salar de Uyuni mit Eispickeln jährlich 25000 Tonnen Salz entreißen. Calizaya nennt es das „Gold der Armen“. Besonders kostbar sei es nicht, aber dafür unerschöpflich, sagt er und blinzelt durch die gesprungenen Gläser seiner Brille. Die bis zu zehn Meter dicke oberste Schicht des Salar enthält rund zehn Milliarden Tonnen Salz, schätzen Experten. Dass der Sonnenglast ihn nach und nach erblinden lässt, will Calizaya nicht wahrhaben. Trotz der vielen Kollegen, die den billigen Sonnenbrillen der fliegenden Händler vertrauen und ihre Hand nicht mehr vor Augen sehen können. Calizaya ist vielmehr stolz darauf, mit 100 Euro mehr zu verdienen als die Ärmsten des Landes.

Zerzauste Adobehäuser, Gleise, die schnurgerade am Horizont verschwinden, Hunde und tanzende Staubsäulen in der Luft – das ist Colchani. Calizayas Heimatdorf am Rand des Salars sieht aus, als träten gleich Butch Cassidy und Sundance Kid aus einer der windschiefen Türen. Nicht weit von hier sollen die Gangster vor gut hundert Jahren erschossen worden sein. In den Türrahmen aber lehnen dürre, wie aus Draht gezwirbelte Jungen mit faustdicken Kokakugeln in den Backen. Sie trocknen, mahlen und verpacken das Salz in höhlenhaften Manufakturen. Seit dem 17. Jahrhundert ist Colchani das Zentrum der Salzproduktion am Salar. Einen Euro gibt es für jeden Zentner. Doch Souvenirs für Touristen bringen ein Vielfaches. Wenn die Jeeps hier Halt machen, stehen Cholitas in ihren Rockgebirgen hinter Ständen und verkaufen aus Salzquadern geschnitzte Lamas. Bevor sie die Figuren mit unendlich traurigen Bewegungen in Zeitungspapier wickeln, zupfen sie umständlich deren rote Halsschleifen glatt und schneiden tiefernste Gesichter. Man kann ihnen nicht zusehen, ohne schwermütig zu werden.

Während der Regenperiode stockt das Geschäft. Dann steht das Wasser oft kniehoch auf dem See und verwandelt die Salzpfanne in einen gewaltigen Spiegel, der den Himmel bis an die Horizonte reflektiert und die Welt in ihrer Indifferenz verschwinden lässt. Wer dann über den Salar läuft, wird von einem Gefühl der Schwerelosigkeit ergriffen und meint in einem All aus blauem Licht zu schweben.

Autos fahren in dieser Zeit nur noch über den Salar de Uyuni, wenn das Wasser zwei Handbreit nicht übersteigt. Darunter sind auch geschmuggelte Gebrauchtwagen aus Chile, die in Kolonnen über den See jagen, um später in Sucre, La Paz oder Potosí verkauft zu werden. Viele der Fahrer sind gleichzeitig Drogenkuriere – auf der Hinfahrt transportieren sie Kokainpaste aus tieferen Tälern für chilenische Labors. Und zuweilen sind Touristen, ohne es zu ahnen, an diesem Geschäft beteiligt: Auch manche ihrer Fahrer schmuggeln. Kenner der Szene sagen, dass die Kampfpreise vieler Tourveranstalter von Uyuni ohne solche Botendienste gar nicht möglich wären.

Die Konkurrenz in dem steingrauen, von einem eisigen Wind gepeitschten Flecken am Eingang des Salar ist enorm. Über 60 Ausflugsagenturen buhlen um die jährlich knapp 80000 Besucher von Uyuni, das sich längst zu einem der typischen Basislager des Rucksacktourismus entwickelt hat. Mit Internetcafés und Pizzerien, mit Nippesläden und Pensionen. Sie reihen sich entlang schmuckloser Straßen, in denen die einzigen Farbtupfer bunte Plastiktüten sind, die in den Böen flattern. Man nennt sie die Blumen Uyunis.

Am frühen Abend verlässt Fulgencios Jeep die Spurrillen des Salar und rumpelt zurück auf die Schotterstraße nach Uyuni. Die Dämmerung malt wieder den Himmel aus wie ein gewaltiges Kirchenfenster. Doch Fulgencios Schützlinge haben jetzt keinen Blick mehr dafür. Nach tagelangem Gepolter durch einen Zaubergarten aus Staub und Geröll verlagern sie unentwegt ihr Gewicht und reiben sich die Wirbelsäule. Auch die Salzhacker sehen sie nicht, die ihnen auf Fahrrädern entgegenkommen. Die Schattengestalten heben einen Arm zum Gruß, bevor sie das violett glimmende Nichts der Salzwüste verschluckt. Die Arbeiter fahren zu Iglus aus Salzquadern, wo sie Woche für Woche kampieren und Salz hacken, bis das Licht ihrer Augen erlischt. Die Reisenden aber fahren zurück: in die Welt.