Der Ritt mit dem Feuergott ist ein Drogenrausch
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Der Ritt mit dem Feuergott ist ein Drogenrausch

FAZ, 2004

Der Ritt mit dem Feuergott ist ein Drogenrausch

 

Ostern bei den Huichol-Indianern in Mexiko

Es geht zu Ende. Die Rinder werden sterben, und sie wissen es. Mit der Kraft der Verzweiflung bäumen sie sich auf, reißen an den Stricken und Riemen, stemmen ihre Hufe in den blutroten Sand der Sierra Madre. Vergeblich. Jeder Ruck der Treiber bringt sie ihrem Schicksal näher. Als die Karawane einen von Adobehütten gesäumten Platz erreicht, steht die Sonne im Zenit. An der Stirnseite des Gevierts erheben sich Männer auf der Veranda eines viel zu großen Gebäudes und beginnen das Vertäuen der Opfertiere zu dirigieren. Bei jeder Bewegung tanzen mächtige Federberge auf ihren Hüten, als schlügen Raubvögel mit den Schwingen. Andere lassen ihre Beine von dem Vorsprung baumeln und leeren Emailletassen mit vergorener Maisgrütze. Stumm beobachten sie, wie zu ihren Füßen Kühe und Ochsen an einem Wald von Pfählen gegen ihre Todesahnung anbrüllen und ein Strom von Pilgergruppen aus allen Richtungen den Platz flutet. Es ist Karfreitag in San Andrés Cohamiata. Die Semana Santa, die Karwoche der Huichol-Indianer, steht vor ihrem Höhepunkt.

Die Sierra Madre Occidental im westlichen Zentralmexiko ist eine atemberaubend schroffe Landschaft. Als hätten Riesen gigantische gebrannte Mandeln auf die Welt gestreut, wölben sich zernarbte, wie von einer Karamellglasur überzogene Berge unter einem stahlblauen Himmel. Schluchten stürzen jäh in die Tiefe und behüten das pfefferminzgrüne Leuchten jener Bäume, die in ihnen Wasser und Zuflucht vor der Gewalt der Sonne finden. Irgendwo in diesem Irrgarten aus Stein und Staub erhebt sich San Andrés Cohamiata auf einem rund zweitausend Meter hohen Plateau. Die archaische Siedlung ist das Herz einer dreitausend Menschen zählenden Gemeinde und das Zuhause von Würdenträgern und wichtigen Schamanen. Ihre gewöhnlichen Stammesgenossen leben wie die meisten der insgesamt fünfundzwanzigtausend Huichol-Indianer in versprengten Hütten und Agglomerationen. Ein bis zwei Tagesmärsche sind sie unterwegs, um wie heute zur Osterzeremonie im Zentrum zusammenzukommen.

Eine waghalsige Straße verbindet San Andrés Cohamiata mit der Provinzhauptstadt Zacatecas im gleichnamigen Bundesstaat. Die Reise ist ein nicht enden wollendes Geschaukel über Geröll und Schlaglöcher. Ungeduldige und um ihre Bandscheiben Besorgte schweben daher mit dem Lufttaxi aus dem Mestizen-Städtchen Ixtlán del Rio ein. So wie Emiliano und Carlos, zwei bezopfte Studenten aus Guadalajara. Gerade hat eine Cessna die beiden jungen Männer auf die Sandpiste gespuckt. Sporttasche, Schlafsack, ihr Gepäck ist notdürftig. Im Schlepptau der Pilger machen sie sich durch Scharen von glotzenden Kindern auf den Weg zum Amtsraum des Gemeindevorstehers. Dort kramen sie 250 Pesos, etwa 25 Euro, aus ihren Brustbeuteln.

Der Obolus sei keineswegs eine Eintrittsgebühr für Fremde, erklärt Rosalio, der Kassenwart des Alkalde. Vielmehr handle es sich um einen Tausch der Adler. Der Adler? „Exacto Amigos“. Das Geld enthielte nämlich nicht nur ein Abbild des gefiederten mexikanischen Nationalemblems, sondern verkörpere auch die destruktiven Kräfte seiner Besitzer. „Neid und Habgier, ein Erbe der spanischen Konquistadoren, ihr versteht?“ Emiliano und Carlos nicken eifrig und sehen zu, wie das Erbe ihrer Vorfahren in Form von 500 Pesos in einer Blechschatulle verschwindet. Im Wechsel ginge nun die spirituelle Energie der Huichol auf sie über, beteuert Rosalio. Die sei nämlich gleichfalls durch einen Greifvogel symbolisiert und sorge für ihre seelische Akklimatisation. Eine spätere schamanistische Zeremonie bürge für das Gelingen des Transfers. Emiliano und Carlos sind zufrieden. Verwandlung. Genau darum sind sie hier. Mit Hilfe der Schamanen wollen sie ihre Grenzen überschreiten und in ungekannte Welten vordringen. Die Sache läuft gut. Schon bald wird es soweit sein.

Im Kluftenchaos ihrer Berge ist es den Huichol wie kaum einem anderen präkolumbianischen Volk gelungen, sich fremden Einflüssen zu entziehen. Lediglich die Jesuiten hinterließen im 17. Jahrhundert eine Handvoll christlicher Symbole und Traditionen. Doch die fermentierten schnell in den Eingeweiden der Huicholmythologie zu einem Gebräu, das seine europäischen Ingredienzien bis heute leugnet. Die Jungfrau Maria? Eine von der spanischen Soldateska verführte Huicholfrau. Der Heilige Geist? Nichts anderes als Tatéi Kukurukú Uimári, die Mutter des Mais in Gestalt einer Taube. Das Kreuz? Längst vor der Ankunft der Mönche bekannt. Bräuche wie das Osterfest bilden so allenfalls einen synkretistischen Firnis, unter dem Abertausende von Göttern walten. Als Ahnen personifiziert hausen sie in der Natur, in Blättern oder in Vögeln, in Felsen, in Flammen oder in Wolken.

Alles ist beseelt, nichts ist ohne innewohnende Kraft, die durch magische Rituale gereizt oder beschwichtigt, gelenkt oder gelockt werden muss. Eine animistische Gesellschaft wie aus dem Bilderbuch. Ethnologen haben ihre helle Freude an den Huichol und verzweifeln dennoch. Denn die Indianer entziehen sich fast jedem Versuch, aus ihren Anschauungen ein System zu destillieren. In ihrer Welt regiert keine kategorische Wahrheit, sondern ein Kosmos teils überlappender, teils widersprüchlicher Versionen. Und alle sind gültig. Ein in den fünfziger Jahren unternommener Versuch der katholischen Kirche, San Andrés Cohamiata auf den Pfad des rechten Glaubens zurückzuführen, scheiterte auf der ganzen Linie. Heute sind Pfarrer während der Semana Santa ausdrücklich unerwünscht.

Die Nacht bricht über den Platz herein, als fiele ein schwarzes Tuch vom Himmel. Kurz darauf klebt der Mond wie eine Perlmuttgemme zwischen den Sternen. Nach und nach lodern Lagerfeuer empor und lecken an der Dunkelheit. „Die Götter werden zufrieden sein“, flüstert Paco und lässt seinen Blick über die Opfertiere schweifen. Ihr Geblöke verliert sich in einer Kakophonie aus Stimmengewirr und fiebrigem Geigengefiedel. Auch auf Pacos Kopf wuchert ein Gestrüpp aus Adlerfedern. Der Aufputz ist das Würdezeichen der Schamanen und keine Seltenheit. In der vor Bedeutung brodelnden Welt der Huichol ist jeder vierte Indianer ein Zauberpriester. Paco erzählt, dass er vor vielen Jahren den Ruf seines Lehrmeisters erhielt. Sehr krank sei er dann geworden und konnte nur gesunden, nachdem er ihm versprach, auch Schamane zu werden. So lernte er mit Kräutern zu heilen, die Gesänge zu singen, die Beschwörungsformeln zu sagen. Und er lernte die Sprache der Götter. In dieser Nacht haben er und seine Kollegen die Aufgabe, die Stammesgenossen auf deren Botschaften vorzubereiten.

Immer mehr Männer, Frauen und Kinder umringen die Feuer. Darunter sind auch Emiliano und Carlos. Beide haben sich umgezogen und tragen nun ebenso die weiße, mit bunten Tiermustern bestickte Tracht der Huicholmänner: knöchellange Baumwollhosen, an den Seiten geschlitzte Hemden, derbe Sandalen und Umhängetaschen. Nur die Schamanenfedern fehlen. Ihr Mummenschanz lässt sie aussehen wie die Nebendarsteller eines Possenspiels, die sich ins falsche Stück verirrt haben. Als Paco ihren Kreis betritt, verstummen die Gespräche. Dann öffnet der Schamane einen Sack und verteilt grüne apfelgroße Pflanzen. Es ist Peyote, ein dornenloser Kaktus mit stark halluzinogener Wirkung. Carlos und Emiliano nicken sich zufrieden zu. Es ist soweit. Peyote wird sie nun zu den Göttern tragen.

Die Gewächse sind die Ausbeute einer Pilgerreise nach Real de Catorce, das die Indianer Wirikúta nennen. Auf der vierhundert Kilometer entfernten Wüstenhochebene befindet sich das Elysium der Huichol. Ihr Besuch im Herbst und im Frühjahr ist eine Wallfahrt zum Geburtsort der Sonne, eine Heimkehr zum Beginn allen Lebens. Die Zurückgebliebenen müssen in dieser Zeit fasten und sexuell enthaltsam leben. Wer gegen diese Auflagen verstößt und seine Vergehen nicht beichtet, erzürnt die Götter. Ihre Strafe wird dann das sein, was die Drogenszene der Großstädte einen „Horrortrip“ nennt.

Zuerst aber erzählen die Schamanen von den Göttern. Vom Sonnenvater Tayaupá, von der Mutter Erde Nakawé, vom Großvater und Feuergott Tatewari. Und sie sprechen von der Trias aus Hirsch, Mais und Peyote. Davon, wie die drei göttlichen Prinzipien in endlosen Metamorphosen einander erschaffen und die Welt begründen. Wie der überlebenswichtige Mais ein Kind des Peyote wurde, wie die Spur des Hirschs den Kaktus wachsen ließ, wie der Peyote in das Geweih des Hirschs kam. Der norwegische Völkerkundler Carl Lumholtz erkannte in diesem verschachtelten, immer wieder auf sich selbst verweisenden Symbolkomplex Anfang des 20. Jahrhunderts die Synthese aus den sozialen Entwicklungsstadien der Jagd, des Sammelns und des Ackerbaus. Für die Huichol indes ist ihr Mythos handfeste Praxis: Weil sie die Grenzen zwischen Hirsch und Peyote als fließend begreifen, schießen sie während der Ernte der Naturdroge mit Pfeil und Bogen auf den Kaktus. Peyote wird nicht gesammelt. Er wird gejagt.

In der Luft schimmert schon der violette Schleier des Morgengrauens als Paco endlich schweigt. Die Gäste aus Guadalajara machen einen schläfrigen Eindruck, denn von seinen Litaneien auf Huichol haben sie nichts verstanden. Dafür schmerzen ihre Beine vom Schneidersitz. Ehrfurchtsvoll knabbern sie ihre extrem bittere und widerlich stinkende Ration. Während Paco einen schnarrenden Gesang anstimmt, starren alle aufmerksam ins Feuer. Eine halbe Stunde dauert es bis die Droge wirkt, dann reiten sie auf den Flammen des Feuergottes und Schamanenpatrons Tatewari in die fantastischen Sphären ihrer Gehirne.

Mehr als zehn Alkaloide stecken im Peyote, den Pharmakologen „Lophophora Williamsii“ nennen und die Huichol „Hicuri“. Eins davon ist Meskalin. Das Gift hebt die Stabilität der inneren Welt auf und „entstaltet“ die Wahrnehmung. Man dünkt sich riesengroß oder zwergenhaft, man reist durch Zeit und Raum, fühlt sich eins mit dem Kosmos oder einem Grashalm. Die Grenzen der persönlichen Identität verwischen ebenso wie die zwischen Bild und Begriff, zwischen Traum und Realität, zwischen Hören, Schmecken und Riechen. Die Sinne dienen nicht mehr der Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit dient den Sinnen. Der Rausch ist eine Art psychische Regression: Viele Filter, die der Mensch mühsam seiner Wahrnehmung aufgeschraubt hat, fallen von ihm ab.

Carlos wiegt seinen Oberkörper, Emiliano ist aufgestanden und stiert in den Himmel. Beide sind in den Welten angekommen, die ihr Held Carlos Castañeda in seinen Büchern preist. Die Werke des peruanischen Schriftstellers lösten in den siebziger Jahren ein weltweites Interesse am Peyote-Kult aus und locken bis heute New Age-Jünger nach San Andrés Cohamiata. Mit klaren Worten berichten die Berauschten von papageienbunten Funkenwirbeln und von fließenden Mandalas und von brennenden Wolken. Ihre Erscheinungen nennen Chemiker „psychogene Muster“. Sie sind eine Folge der Ausschüttung von Neuronen in die Augenstruktur. Die Götter aber bleiben ihnen verborgen. Sie zeigen sich nur denen, die sie seit mehr als zwei Jahrtausenden verinnerlicht haben: den Huichol. Tatewari zum Beispiel betritt ihre psychedelische Bühne manchmal als eine Art gehörntes Sehpferdchen, manchmal als Drachen mit Feuerkrone – je nach seinen Botschaften, die später von den Schamanen interpretiert werden. In dieser Nacht erscheint der Feuergott häufig als schlangenspeiender Hirsch und kündigt so den nahen Beginn der Regenzeit an.

Der regelmäßige Meskalinrausch ist für die Huichol kein hedonistischer Spaß, sondern der Angelpunkt ihrer Kultur, der vitale Austausch mit den allmächtigen Göttern, die ständig in das Leben der Menschen eingreifen. „Aspirin ist eine Droge, Peyote ist heilig“ zitiert Paco seinen Lehrmeister. Darum gibt er auch Schwangeren und kleinen Kindern die gallebittere Pflanze. Während der Semana Santa sieht man immer wieder selig lächelnde Sprösslinge in die Luft greifen, um eine ihrer Visionen zu erhaschen.

Die Kirche von San Andrés Cohamiata ist ein leerer Steinquader ohne besondere Bedeutung. Die Götter wohnen woanders. Doch jetzt, zur Mittagszeit, verwandelt sich der Bau in einen archaischen Opfertempel. Die Mächte haben gesprochen, nun ist es an der Zeit, sie zu ehren: mit Blut. Dazu werden die Rinder an den Füßen zusammengebunden, wie rohes Fleisch in die Kirche geschleift und mit einer Machete abgestochen. Fünf, sechs Dutzend Tiere verlieren so ihr Leben. Damit die Götter gewogen bleiben, der Mais wächst, Krankheiten ausbleiben. In dem überfüllten Raum riecht es nach Schweiß und Tod und Inbrunst. Geigen heulen, Gitarren ziepen, Stocktrunkene mit maisbierverkrusteten Wangen liegen zwischen den Betenden. Schamanen tauchen ihre Zauberstäbe in das aus den Brustkörben der Rinder sprudelnde Blut und segnen wie besessen die Gläubigen. Draußen auf dem Platz mischen sich unterdessen Ergriffenheit und karnevalistischer Irrsinn. Rancherogruppen spielen auf, Clowns tanzen mit blutverschmierten Masken und obszönen Bewegungen, Hunde jagen mit abgerissenen Kuhohren herum. Und wieder und wieder tippeln Prozessionszüge über das Areal und singen Weisen, die ihnen Eka Tewari, der Gott des Windes, im Peyote-Delirium lehrte. Still sind nur die gezackten Umrisse der Geier, die wie fliegende Dolche über den Himmel gleiten.

Zwei Tage dauert der heilige Spuk, dann sind die Pilger wieder in ihren Schluchten verschwunden. Das Fleisch der Opfertiere hängt zum Trocknen an Wäscheleinen, und Emiliano und Carlos tragen wieder zivil. Wie ernüchterte Narren am Aschermittwoch warten sie auf ihr Flugzeug, das sie nach Hause bringt. Zurück zu Neid und Habgier. Sie haben die Pforten der Wahrnehmung durchschritten, doch die Paradiese blieben künstlich. Der Baum der Erkenntnis hat sie blind gemacht für den Göttergarten der Huichol. Mit glanzlosen Augen verfolgen sie zwei Kälber, die im Staub nach Futter suchen. Die Tiere sind dem Gemetzel entgangen. Dieses Mal. Spätestens im nächsten Jahr aber werden sie sterben. Damit der Regen kommt und der Mais gedeiht. Und natürlich der Peyote.