Jeder Hügel hat seinen eigenen Wind
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Jeder Hügel hat seinen eigenen Wind

FAZ, 2005

Jeder Hügel hat seinen eigenen Wind

 

Valparaíso, die spröde Schönheit Chiles

Menschen, die an Climacophobie leiden, sollten Valparaíso meiden: Die chilenische Küstenmetropole ist ein Alptraum für jeden Treppenphobiker, ein Gebirge aus Straßen, Gassen und Pfaden, von denen die Mehrzahl so steil ist, dass man sie ohne Stiegen nicht begehen kann. Keine Stadt habe sie in ihrer Geschichte so verschwendet und aufgeblättert, sie in ihrem Angesicht so ausgestreut und vereint wie Valparaíso, schrieb Chiles Dichterfürst Pablo Neruda einmal über die vielen Stufen seiner Lieblingsstadt und stellte fest: „Wenn wir alle Treppen Valparaísos begangen haben, sind wir um die Welt gereist.“

Alle Auf- und Abstiege irren durch ein bonbonbuntes Häusermeer, das über die Schluchten, Furchen und Terrassen eines Höhenzugs brandet. Als wuchere eine riesige Korallenbank über die jäh aufragenden Ränge eines Fußballstadions, kleben die Domizile an mehr als vierzig Hügeln und drängen die enge Unterstadt Valparaísos an den Saum des Pazifiks. Viele der Häuser sind aus Holz gezimmert, die meisten tragen eine mit Metallflicken versehene Wellblechhaut in Rot, Lindgrün und Himmelblau, in verblichenem Zitronengelb und Umbratönen. Ihr Lack stammt häufig noch von den Schiffen aus Europa, die den einstmals bedeutendsten Hafen Südamerikas vor hundert Jahren regelmäßig anliefen.

Jeder Cerro, wie die Hügel auf Spanisch heißen, ist eine Welt für sich. „Hier sind die Sitten streng, dort leichtlebig. Hier waltet eine methodistische, dort eine katholische Kirche. Jeder Cerro hat seine eigene Moral wie er seine eigene Geometrie hat, seinen eigenen Wind und seinen eigenen Regen,“, notierte der chilenische Dichter Guillermo Quiñones vor Jahren. Es gibt besonders abenteuerlich über der Stadt brodelnde Häuserhaufen wie Bellavista oder La Florida und elegante Viertel wie den neureichen Cerro Artillería oder den seit jeher noblen Cerro Alegre. Es gibt Wohnhügel der Mittelklasse wie Playa Ancha, und es gibt Berge voller windschiefer Hütten, wie man sie auf den heruntergekommenen Cerros Barón und Cordillera findet.

Im Gewirr ihrer oft illegal errichteten Buden begegnet man mehr noch als andernorts Valparaísos Parallelgesellschaft: seinen unzähligen Hunden. Sie lungern überall und taxieren die Passanten wie angetrunkene Halbstarke. Man trifft sie einzeln und paarweise, in Banden und in Rudeln. Es gibt jede Rasse und jede Mischung, wohlgenährt und spindeldürr, mit liebenswürdigen Mienen und mit regelrechten Mördervisagen. Wer sich in Valparaíso wohl fühlen will, sollte nicht nur Treppen mögen. Auch ein Faible für Hunde wäre hilfreich.

Gegen die Allgegenwart der Straßenköter hilft nichts, gegen brennende Oberschenkel im vertikalen Valparaíso helfen die Ascensores. Die Schrägaufzüge sind die einzigen Orientierungsmarken im Labyrinth der Treppen und Wege. Fünfzehn von einst neunundzwanzig Aufzügen ruckeln heute noch beinahe senkrecht die Hügel empor. Der Ascensor Lecheros ist mit 60 Grad Steigung der steilste. Tag für Tag transportieren die denkmalgeschützten Gefährte zwanzigtausend Pendler für dreißig Cent pro Fahrt vom konfettibunten Gewimmel ihrer Häuser in die Innenstadt und zurück. Rund hundert Jahre haben die Standseilbahnen auf dem Buckel. Die erste ächzte schon 1855 auf den Cerro Cordillera mit je nach Passagierlast zu füllenden oder zu leerenden Wassertanks. Dann setzten sich Dampfmaschinen durch, und 1906 brummte erstmals ein Elektromotor in einem der Aufzüge. Der Antrieb aus Deutschland hievt bis zum heutigen Tag die grafittibeschmierte Kabine des Ascensor Barón in die Höhe.

Mit beiden Händen zerrt der Liftführer an einem Hebel, dann rastet die Antriebsscheibe ein. Erst knarrt und stöhnt es, als stürze eine gewaltige Eiche zu Boden, dann beginnt die Apparatur zu quietschen und zu kreischen wie Blech in einer Schrottpresse. Es ist der Moment, in dem sich die beiden gelbgrünen Kabinen des Ascensor Concepción in Bewegung setzen. Von oben und von unten poltern sie über eine Metallschiene aufeinander zu. Von der Ferne sieht es aus, als schritten zwei fette Käfer zum Duell. Langsam kriechen sie unmittelbar an Hauswänden entlang, durch Gärten und Hinterhöfe, vorbei an Wäscheleinen, Blumentöpfen und geöffneten Fenstern, hinter denen Fernseher flackern, Kinder spielen, Familien beim Abendessen sitzen. Für zwei, drei Sekunden kann man ihnen dabei zusehen, dann ist der Kasten weitergerattert.

Er und sein Gegenstück sind durch ein Kabel miteinander verbunden. Der teerschwitzende Strang muss alles halten. Automatische Bremsen gibt es nicht. Reißt er, rasen die Fahrkörbe wie zwei Meteoriten abwärts. Dem Liftführer ist das gleichgültig. Er weiß, dass es niemals einen ernsteren Unfall gegeben hat. Sein Matrosengesicht verschwindet unter dem Schirm seiner Ballonmütze, wenn er sich während der Fahrt in den „Mercurio“ vertieft. Das machten schon Generationen vor ihm – das Blatt aus Valparaíso ist die älteste Tageszeitung Lateinamerikas. Doch schon eine Minute später taucht sein Kopf wieder hinter den Seiten auf. Die Fahrt ist nach siebzig Metern zu Ende.

Oben angelangt tritt man ins Freie und fühlt sich wie auf der Brücke eines Ozeandampfers. Jenseits des Gewimmels der Schiffslackhäuser schweift der Blick über den Pazifik. Es könnte jenes Panorama sein, das sich damals dem spanischen Leutnant Juan de Saavedra geboten hatte. Heimwehkrank taufte der Mitstreiter des Konquistadors Diego del Almagro 1536 die von Honigpalmen gesäumte Bucht nach seinem andalusischen Heimatdorf „Paradiestal“. Meersalz schwängert die Luft, das Licht schimmert mild wie durch Gaze, es riecht nach Tang und Großstadt und modrigem Holz. Jenseits des Paseo Gervasoni führen Wege zwischen die „Büschel aus verrückten Häusern“, wie Pablo Neruda sie nannte. Kopfsteinpflaster ballen sich unter den Sohlen, anglikanische Kirchen fallen ins Auge, Blumenbeete kokettieren vor viktorianischen Fassaden. Man merkt, dass der Cerro Concepción die Residenz englischer Einwanderer war.

Heute ist er der Montmartre Valparaísos. Maler sitzen mit Skizzenblöcken auf Mauern, während Katzen auf Fenstersimsen dösen. Kleine Galerien haben ihre Türen geöffnet, und aus Kneipen dringt Gitarrenmusik. Aus der Zeit gefallene Eisenwaren- und Kramläden reihen sich neben Frisörgeschäfte, in denen Herren mit Krawatten und weißen Schürzen die Hinterköpfe ihrer Kundschaft sorgsam trimmen. Doch ihre Akkuratesse will nicht so recht zu Valparaíso passen, das sich jeder Ordnung zu verweigern scheint.

Die Gassen sind verräterisch, der Spaziergänger ist ein Spielball ihrer anarchistischen Routen. Nicht selten werfen sie ihn unverhofft auf seinen Ausgangspunkt zurück. Karten sind nur grobe Raster und helfen wenig, denn die Perspektive wechselt fortwährend. Mal blickt man von unten, mal von oben auf den Organismus aus Wegen und Pfaden, der sich ständig neu erschafft. Von einem Moment auf den anderen werden die Treppen enger, steiler und verwinkelter, führen unvermittelt über Brücken und durch Innenhöfe. Immer wieder wähnt man sich in einer Sackgasse, will umdrehen und entdeckt doch wieder einen Durchgang, der zu neuen abenteuerlichen Steigen führt. Anders als die meisten lateinamerikanischen Städte ist Valparaíso nicht als Schachbrett entworfen, sondern mäandert chaotisch in alle Richtungen. Und sein launisches Terrain fordert geradewegs eine exzentrische Architektur. Kaum ein Haus gleicht dem anderen, jedes ist ein Sieg der Improvisationskunst über die wirre Topografie der Stadt und seiner Cerros. Vielleicht ist es gerade diese Poesie eines fehlenden Plans, mit der Valparaíso immer schon die Bohème des Landes begeisterte.

Wie ein Adlerhorst nistet der Friedhof des Cerro Panteón auf einer fußballfeldgroßen Felsnase. Der verwunschen eingewachsene Platz ist ein beliebter Treffpunkt für Verliebte und andere Schwärmer. Während der schweren Erdbeben Valparaísos gebärdete er sich jedoch als Ungeheuer und spuckte Särge ins Geschäftsviertel der Unterstadt. An einem milden Spätsommertag wie diesem mag man das nicht glauben. Schmetterlinge taumeln durch die Luft, Vögel zwitschern. „Hier ruht mein geliebter Gatte Gordian Dieterle. Ruhe sanft in ewigem Frieden“ steht auf Deutsch in ein Steinkreuz gemeißelt. Ein paar Schritte nebenan breitet ein Engel seine verwitterten Steinflügel über das Grab eines gewissen Dr. Edmund Delmonte aus Hildesheim. Nicht weit davon entfernt sieht man die Mausoleen der Familien Ramírez-Taylor und Tesche-Aragón. Und dann werden die Namen vollends eklektisch, zusammengesetzt aus den Strömen der Immigration. Lucía Roth de Simpson heißen sie und Carmen Grimwood de Ballivian, Guillermina Kirkendbright Raddatz und Alfredo Azancot Carson.

Die große Zeit der Einwanderer begann nach den Befreiungskriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als der Handel mit Europa freigegeben wurde und die aufkommende Dampfschifffahrt Valparaíso aufblühen ließ. Seefahrer aller Nationen ließen sich nieder, dazu englische Kaufleute und chilenische Salpetermagnaten, Immigranten aus Italien, Jugoslawien, Frankreich und Deutschland. Regelmäßige Schifffahrtslinien verbanden Valparaíso mit Hamburg, hanseatische Handelshäuser eröffneten hier ihre Kontore, der „Deutsche Verein“ war der erste in ganz Südamerika. In seinem „Kaisersaal“ hängen heute noch pathetische Ölschinken von Bismarck und Wilhelm II. Doch schon bald nachdem man ihre Haken in die Wände geschlagen hatte, begann Valparaísos Niedergang. Am 15. August 1914 öffneten sich zum ersten Mal die Schleusentore des Panamakanals. Die Kap Hoorn-Route geriet schlagartig ins Abseits – und mit ihr Valparaíso.

Längst sind die ostasiatischen Länder Chiles größter Handelspartner und kompensieren den Wegfall des europäischen Warenflusses. Und dank wachsender Exporte erlebt Valparaísos Hafen in jüngster Zeit eine neue Blüte. Die Seefahrerromantik hat indes gelitten, die immer gleichen Containerstapel haben mit ihr aufgeräumt. Und doch liegt über der Hafengegend das melancholische Aroma einer untergegangenen Epoche. Man sieht Geschäfte für Taue und Ölzeug, rüde Matrosenkneipen und abgehalfterte Rotlichtbars. Und auch der Plán, das laute, enge, proletarische Zentrum „Valpos“, verweigert sich blankblitzender Glattheit. Trolleybusse rattern durch die Kurven, Reklameschilder werben mit Typografien aus längst verschwundenen Setzkästen. Ein modriger Duft des Fin de siècle liegt in der Luft und trägt seinen Teil zur eigentümlichen Gemengelage bei: Das vor zwei Jahren zum Weltkulturerbe ernannte Valparaíso ist ein Verschnitt aus herber Arbeiter- und malerischer Küstenstadt, gleichzeitig beschwingt und morbid, eine weltabgewandte Legierung aus Genua, Liverpool und Hamburg-Altona.

Vor allem über den ruppigen Plán rümpfen die Hauptstädter aus dem 120 Kilometer entfernten Santiago die Nase. Doch immer mehr kommen, um eine verlassene Villa auf den Hügeln zu kaufen und aufzumöbeln. Sie eifern Pablo Neruda nach, der vor sechsundvierzig Jahren in sein Anwesen auf dem Cerro La Florida einzog. „La Sebastiana“ nannte er es in Anlehnung an den Architekten Sebastián Collado. Doch nicht jeder in Valparaíso kann sich mit den neuen Besitzern anfreunden. Die Häuser stünden meist wochenlang leer, heißt es, und oft würde das Mobiliar in Kneipen und Ladenlokalen aufgekauft, um den Wochenenddomizilen eine nostalgische Note zu verleihen. Dass Investoren und Spekulanten die Immobilienpreise seit Beginn dieser Mode kräftig in die Höhe getrieben haben, sorgt zusätzlich für Ärger.

Das wichtigste Gebäude Valparaísos schön zu nennen, fällt indes schwer. Es ist das chilenische Parlament. Pinochet verlegte es am Ende seiner Amtszeit in den späten 80er Jahren von Santiago in seine Heimatstadt. Den eierschalenfarbenen Kasten ließ er zwischen zweistöckige Häuschen aus dem neunzehnten Jahrhundert zwängen. Grobschlächtiger ging es nicht. Sein Büro mit direktem Zugang zum Sitzungssaal des Senats hat der greise Ex-Despot lange nicht mehr aufgesucht. Er verbringt seine Tage vielmehr im dritten Stock eines mintgrünen Wohnwürfels in Viña del Mar, der Zwillingsstadt Valparaísos.

Zwanzig Minuten braucht der Bus dorthin. Wer ihn nimmt, könnte meinen, er führe von einer europäischen Vorkriegshafenstadt nach Miami. Kaum ein Ort in Chile wächst schneller als der Alterssitz Pinochets. Die Einwohnerzahl von Viña del Mar hat die von Valparaíso mit seinen knapp 300 000 Menschen schon vor Jahren überholt. Hier umringen gläserne Wohntürme teure Regattahäfen, alles wirkt übertrieben neu, steif und keimfrei. Es dauert nicht lange, und man sehnt sich nach der öligen Patina Valparaísos zurück.

Patina gibt es im „Cinzano“ reichlich. Wenn die beleibten Ober über das Parkett der Traditionskneipe in Valparaísos Unterstadt schreiten, wippen die Tische, und die Bohlen knistern wie Lagerfeuer. Rostige Schilder mit Vermouthwerbung zieren die Wände, auf Regalen verstauben Schiffsmodelle. Ein handbetriebener Lift befördert Berge faustgroßer Muscheln und Seeaalsuppe aus der Küche herauf. Ganz hinten haben vier Herren in zerdrückten kaffeebraunen Anzügen Aufstellung genommen. Sie spielen Tango. Der Sänger steht auf hohen Absätzen, seine Stücke aus der Feder von Carlos Gardel handeln von nichts als Leidenschaft. Doch die Grandezza der Tango-Ikone strahlt er nicht aus. Seine Pose erinnert eher an einen schwermütigen Gewerkschafter. Nach jedem Lied saugt der Mann hohlwangig an seiner Zigarette, und ein dürrer Applaus klappert durch den Raum. Man spürt, dass Pathos und Emphase im „Cinzano“ seltene Gäste sind. Nach einigen Tagen in Valparaíso stellt man fest, dies für die ganze spröde Schönheit der Stadt gilt, die ein bisschen vulgär und dennoch voller Zauber ist. Es ist der Zauber des Vergangenen, der auf große Gesten verzichtet und um so luftiger weht, je tiefer man sich im Märchenwald von Valparaísos Treppen verliert.