Höher, dichter, grüner
25540
wp-singular,post-template-default,single,single-post,postid-25540,single-format-standard,wp-theme-bridge,bridge-core-3.3.3,qode-page-transition-enabled,ajax_fade,page_not_loaded,,qode-title-hidden,qode_grid_1200,qode-smooth-scroll-enabled,qode-theme-ver-30.8.7.1,qode-theme-bridge,disabled_footer_bottom,wpb-js-composer js-comp-ver-8.4.1,vc_responsive

Höher, dichter, grüner

FAZ, 2025

Höher, dichter, grüner

Der spanische Badeort Benidorm ist nicht berühmt für touristischen Feinsinn. Aber mittlerweile für seine zukunftsweisende Nachhaltigkeit. Das geht besser zusammen, als man denkt.

„Scheiße, ist das schön hier!“ Gut, das kann man poetischer formulieren. Aber der Mann aus Manchester hat ja recht. Im pinkfarbenen T-Shirt mit aufgedrucktem Mittelfinger steht er hoch über zwei weiten, brauengleich geschwungenen Buchten, die von einer Felsnase geteilt werden. Vorne empfangen sie das herandrängende Blaugrüntürkis des Mittelmeers, dahinter umrahmen Berge ein sonnenvergoldetes Getümmel schlanker Wolkenkratzer. Man kann dieses Panorama sehen und an ein europäisches Hongkong denken. Doch was sich da unter dem Mirador de la Cruz ausbreitet, ist die vielleicht berüchtigste Ferienmaschine, die dieser Kontinent zu bieten hat: Benidorm an der spanischen Costa Blanca.

Das Synonym für plebejische Obszönitäten, anspruchslose Glücksverheißung und die Absenz einer höheren Idee macht jedoch mittlerweile ganz anders von sich reden. Benidorm gilt neuerdings als Musterbeispiel für nachhaltiges Reisen. „Never ever“, würde unser Engländer am Aussichtspunkt vermutlich rufen. Benidorm als Garten Eden für achtsame, klimasensible Touristen? Eher beginnt ein Krokodil zu schnurren, wenn man es bloß lange genug am Kopf krault! Aber die Indizien mehren sich. Nicht nur, dass die Stadt an französischen und japanischen Schulen als Vorbild für moderne Stadtentwicklung gepriesen wird; dass Architekten über ihre Effizienz ins Schwärmen geraten; dass der Designer Javier Masiscal ihren demokratischen Geist lobt und deswegen bekundet, dass er Benidorm Florenz vorzöge. Die Destination gewinnt auch internationale Preise, die sie als Labor für touristische Nachhaltigkeit rühmen. Unlängst hat die Europäische Kommission die 45 Kilometer nordöstlich von Alicante gelegene Stadt als „Green Pioneer of Smart Tourism 2025“ ausgezeichnet.

Ausgerechnet der Wow-Effekt der Skyline verrät schon den wichtigsten Grund für die sanfte Seite Benidorms, das mit 350 Wolkenkratzern auf 38 Quadratkilometern die größte Hochhausdichte der Welt besitzt. Im Vergleich zu den lückenlosen Betongeschwüren der Villensiedlungen von der Costa Brava bis zur Costa del Sol hat das konsequent vertikale Modell einen dramatisch kleineren ökologischen Fußabdruck. Ein Wohnturm mit einem Swimming Pool braucht nicht nur weniger Wasser als zehn Einzelhäuser mit zehn Schwimmbädern; er kommt auch mit viel weniger Rohren, Stromleitungen, Abwasserkanälen, Straßen, kommunalen Diensten oder öffentlichen Verkehrsmitteln aus. So nutzt Benidorm nur zwei Prozent des valencianischen Küstengebiets, erwirtschaftet aber mehr als 40 Prozent seiner touristischen Einnahmen. Immer wieder zitiert Bürgermeister Antonio Pérez eine Studie, die Erstaunliches ausgerechnet hat: Wenn es Benidorm 13-mal gäbe, würde das die spanische Mittelmeerküste komplett von allen anderen Bauten befreien.

Benidorm ist mit über 15 Millionen Übernachtungen das drittwichtigste Reiseziel Spaniens und eine touristische Monokultur ohnegleichen: Neun von zehn seiner 70.000 Einwohner arbeiten in der Branche und kümmern sich um 2,8 Millionen Besucher pro Jahr – an einem guten Tag sind 400.000 Menschen in der Stadt. Benidorm ist nicht vom Tourismus entstellt; es ist der Tourismus selbst. Anders als Sevilla oder Barcelona, die mit den Massen hadern, hat sich die Stadt ihnen von Anfang an ausgeliefert.

Als in dem einstigen Fischerdorf vor über sechzig Jahren die Thunfischbestände schrumpften, wettete der damalige Gemeindevorsteher Pedro Zaragoza ganz auf den Fremdenverkehr. Er ließ Straßen teeren, Boulevards anlegen und ersann Reklameaktionen wie jene mit den baskischen Hochzeitspaaren, die in Benidorm kostenlos und werbewirksam ihre Flitterwochen verbrachten. Und er ließ das Bikiniverbot aufheben. Als ihm der Erzbischof von Valencia daraufhin mit der Exkommunikation drohte, bestieg er der Legende nach seinen Motorroller und knatterte damit zu Franco nach Madrid. Der erteilte ihm die touristische Absolution.

Sonderlich schwierig war das vielleicht nicht: Der Diktator hatte ohnehin entschieden, sein isoliertes Land für Deviseneinnahmen zu öffnen. Um zu zeigen, dass man weiterhin gut katholisch ist, ließ man 1962 auf dem Mirador de la Cruz ein riesiges Holzkreuz aufstellen – und eröffnete im gleichen Jahr die erste Schwulenbar Spaniens. Benidorm, das heute die viertgrößte Pride Parade der Nation ausrichtet, war immer aufgeschlossener und moderner als der Rest des Landes. Räumlich allerdings stieß es irgendwann an seine Grenzen. Doch auch da zeigte sich die Stadt findig. Der Architekt Francisco Muñoz hatte die Lösung. Im Gespräch mit Bürgermeister Zaragoza legte er Streichholzschachteln auf den Tisch und stellte sie dann nacheinander auf. So sollte Benidorm von nun an werden: wie eine Stadt aus senkrechten Streichholzschachteln.

Benidorm baut im Himmel, nicht am Boden, lautet das Credo seit Jahrzehnten. Und die Bagger für das neueste Projekt stehen schon bereit. Auf einem Areal am Rand der Innenstadt sollen bald 2200 neue Apartments und an die zwanzig Hotels entstehen, dazwischen ein Park mit Platz für fast 10.000 Bäume. Die Vorgaben für die Bebauung machen der Benidormer Tradition alle Ehre: Laut Planungsunterlagen darf kein Gebäude der Wohnanlage „Ensanche Levante“ weniger als 20 Stockwerke haben.

Wer sich von der Vogelperspektive eines der vier Aussichtspunkte ins Zentrum begibt und dort den Kopf in den Nacken legt, fühlt sich wie auf dem Grund einer Kiste. Dennoch scheint sich Benidorm nicht entscheiden zu können, ob es Manhattan oder Strandbude sein will. Eine merkwürdige Anmutungsspannung zwischen Provinzialität und Coolness liegt über allem. Und das hat weniger mit dem Pausentastenmodus eines ewig samstäglichen Ferienorts zu tun, sondern eher mit dem flanierwütigen Verkehrskonzept. Hier gibt es – in Spanien unerhört – fast zehn Kilometer Fußgängerzone. Drei Viertel aller Menschen gehen zu Fuß, nur 15 Prozent des Verkehrs fällt auf das Auto. Seit ein paar Jahren gilt in vielen Quartieren eine Höchstgeschwindigkeit von zehn Stundenkilometern. Die Wagen tasten sich eher vorwärts als dass sie fahren. Man könnte meinen, hinter jedem Steuer säße ein Kiffer, der sich einbildet, er transportiere auf dem Dach eine Fuhre Flaum und dürfe keine einzige Feder verlieren.

Auf der Avenida Mediterraneo ziehen die Radfahrer auf zweispurigen Radwegen locker an ihnen vorbei. Sie verlaufen links und rechts des Boulevards und sind Teil eines Netzes von 134 Kilometern. Und auch die filmstudiohafte Straßenbeleuchtung in Form außerirdisch anmutender Leuchtringe ist öko: Die LED-Technik hat den dafür nötigen Energieaufwand in drei Jahren um zwei Drittel gesenkt. Wenn es stimmt, dass der Tourismus für acht Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich ist – Benidorms Verkehr zieht sich gut aus der Affaire. Er trägt sogar dazu bei, dass die Luftqualität zu den besten aller spanischen Städte zählt.

Auf der Promenade des Levante-Strands sind Autos komplett verboten. Hier startete in den sechziger Jahren die erste große Bauoffensive mit zuckerwürfelplumpen, auf pure Vermassung ausgelegten Hochhäusern, die Benidorm den Ruf des Grobians unter den Urlaubsorten eintrugen. Die Zeit hatte jedoch anderes mit ihnen vor. Dank klarer Linien und gerundeter Ecken, geometrischer Betongitter und rhythmisierter Balkonreihen verströmt das Vulgär-Modernistische heute zuweilen den Retro-Glamour des Mid-Century-Designs. Ästhetizisten bietet der Stil ein überraschend reiches Jagdfeld. Wer sich auf eine Terrasse setzt, einen Wermut bestellt und die Lider schließt, kann leicht einen kleinen Tagtraum starten. Vor dem inneren Auge defiliert dann der Sixties-Chic der Benidormer Gründerzeit mit Panamahüten, Pfennigabsätzen und Audrey-Hepburn-Sonnenbrillen in handkolorierten Farben vorbei.

Die Realität ist jedoch ungleich schriller. Ramschläden bewerben ihre Rabatte auf Schildern mit Deppenplural. Rosig gebrannte Holländerinnen liegen wie Erschlagene in Sonnenstühlen. Tätowierte Männer wiegen vor Open-Door-Bars ihre nackten Bäuche zu Chartmusik aus den Neunzigern, während spanische Pensionistengruppen im Sand turnen und dabei lachen, als sähen sie zum ersten Mal einen Film von Charlie Chaplin. Viele von ihnen reisen dank eines Sozialprogramms der Regierung, das finanziell schwache Rentner unterstützt. Benidorm betrachtete sich von Beginn an als Anwalt des kleinen Mannes. Und immer wieder muss man auf der Promenade Kolonnen insektenflinker Elektromobile ausweichen. Auf ihnen bekommen selbst die Gehbehinderten etwas Heiteres, Junges, fast Schmetterlinghaftes. Vor allem im Winter, wenn das Grau wie eine Zwangsjacke über den Ländern des Nordens liegt, schwärmen die Betagten nach Benidorm und blühen auf. Es ist, als wollten sie den euphemistischen Vorstellungen vom Alter in den Apothekerzeitungen endlich Gestalt verleihen.

Sie alle kommen nicht, weil es hier so viel schöner wäre als anderswo. Sie kommen, weil die Reißbrettstadt eigens für sie errichtet wurde. Und auch das versteht man unter Nachhaltigkeit: Die meisten Straßen und Wege haben keine behindernden Bordsteine. Sehenswürdigkeiten werden auch in Blindenschrift erklärt. Es gibt QR-Codes, dank derer man sich Informationstafeln in sechs Sprachen vorlesen lassen kann. Am Strand stehen an barrierefreien Abschnitten spezielle Baderollstühle bereit, auf denen Menschen mit Handicap mittels bequemer Rampen direkt ins Meer fahren. In abgetrennten Arealen können abreisende Touristen Utensilien wie Strandspielzeug, Matten oder Taucherbrillen zur Wiederverwertung zurücklassen. Überall stehen stählerne Recycling-Container, die mit ihrer bauchigen Form wie historische Registrierkassen aussehen und Benidorm zum spanischen Meister im Altglassammeln machen. Die Fußduschen funktionieren mit Salz- statt mit Leitungswasser. Die erste Strand-Bibliothek Spaniens verleiht Bücher und Zeitschriften bis die Druckerschwärze verschmiert und beglückt vor allem altersdünne Spanier mit schmalen Bleistiftbärtchen. Und als hätte die Welt darauf gewartet, gendert man auf Piktogrammen brav Mann, Frau und Kind.

Benidorms Nachhaltigkeitsfetisch treibt auch die Hotels um, die weitgehend in einheimischer Hand sind: Etwa 80 Prozent der fast 150 Häuser gehören Familien am Ort, die wenigen internationalen Ketten treten vorwiegend als Pächter auf, nicht als Eigentümer. Laut Hotelverband Hosbec hat die Branche in den vergangenen vier Jahren mehr als 300 Millionen Euro in einen Mix aus Erneuerbaren Energien investiert. Drei Viertel aller Herbergen verfügen heute über Solaranlagen – was bei mehr als 300 Sonnentagen im Jahr nur vernünftig sein kann.

Zur Nachhaltigkeit gehören aber auch Engagements wie die des 18-stöckigen Poseidon Playa. Das Dreisternehotel liegt am auftrumpfender bebauten, manchmal an den Geschmack vorderasiatischer Petrostaaten erinnernden Poniente-Strand. Seine energetische Fassade strahlt in hysterischem Weiß und funktioniert dank neuer Belüftungstechnik als natürliche Klimaanlage. Das Haus besitzt zudem einen Vertrag mit einer Ölmühle, die ihm Olivenreste für seine Pelletheizung liefert: Der Abfall hat einen viermal höheren Brennwert als Holzbriketts. Und selbst wer hier Aufzug fährt, tut etwas für die Energiebilanz: Der Lift erzeugt beim Abbremsen Strom und speist ihn in den Kreislauf ein.

Mehr noch als Erneuerbare Energien, isolierte Fassaden oder Bioabfälle spielt das Wasser eine Rolle in Benidorm. Seine Knappheit ist eine Art Trauma der Gute-Laune-Stadt: In den großen Dürren der späten siebziger Jahre mussten Kriegsschiffe mit gigantischen Wassertanks den Ort versorgen. Das soll vor allem für deutsche Touristen ein so einschneidendes Erlebnis gewesen sein, dass sie seither einen Bogen um Benidorm machten. Tatsächlich hört man Deutsch im Sprachenbabel so gut wie nie.

Mittlerweile stehen die Dinge anders. Schaut man auf das vergangene Vierteljahrhundert, hat Benidorm heute 40 Prozent mehr Einwohner und 26 Prozent mehr Besucher – verbraucht aber 18 Prozent weniger Wasser als damals. Das liegt an den Wasseraufbereitungssystemen, die heute in vielen Hotels und Apartmentblocks Standard sind, und hochmodernen Kläranlagen in den rostroten Bergen vor der Stadt. „Die Verwertungsrate unseres Trinkwassers liegt mittlerweile bei 96 Prozent. Das ist die höchste der Welt“, trompetet Bürgermeister Pérez. Auch die Leitungsdichte sei international rekordverdächtig. Kaum ein Tropfen in Richtung Wasserhahn ginge verloren.

Gefüttert wird Pérez mit Zahlen von seiner Stadtverwaltung, die natürlich auch in einem Wolkenkratzer residiert. Der liegt allerdings waagerecht am Boden, als sei er umgekippt. So sieht das wohl aus, wenn Architekten Witze machen. In einem Großraumbüro sitzt Antonio Sánchez vom „Smart Office“ vor mehreren Bildschirmen und lässt bunte Balken und Diagramme aufleuchten. Schon nach ein paar Minuten kommt er einem vor wie der Gott von Benidorm. Er weiß schlicht alles. „Das freie WLAN an den Stränden und im Zentrum ist nicht nur ein Service. Wir sammeln und analysieren damit auch Daten. Wir wissen, welche Touristen wann, woher, für wie lange und aus welchem Grund kommen. Wir wissen, wo sie übernachten, wie alt sie sind, welche Nationalität sie haben, wie viel Geld sie für was ausgeben, ob ihnen ihr Urlaub gefällt und was sie in den Sozialen Medien über ihn erzählen.“

Erst recht kann der Mann seiner Datenbank entlocken, dass in den Sommermonaten nahezu jeder zweite Tourist aus dem Vereinigten Königreich stammt. Die Briten fliegen in so großer Zahl über die Flughäfen von Valencia und Alicante ein, dass man fast von einer Luftbrücke sprechen will. Sie belegen gut 40 Prozent der Hotelzimmer und 80 Prozent der Apartments. Und sie sind überall.

Wer Feldforschung betreiben möchte, geht ins Feierviertel Rincón de Loix. Billigrestaurants bieten hier Frittiertes und Verschmiertes, in Diskos fliegen betrunkene Frauen von mechanischen Rodeostieren. Männer kaufen diese überall aushängenden T-Shirts von atemberaubender Versautheit in pinkestem Pink nicht als Mitbringsel, die man später verschämt aus dem Koffer packt; sie tragen sie in den unzähligen Pubs, die Queens Arms heißen, Rose and Crown oder Yorkshire Pride. Und man verletzt sicher niemandes Persönlichkeitsrechte, wenn man behauptet, dass die englische Bulldogge hier eher zum Nationalsymbol taugt als die drei stolzen Löwen. Nach Mitternacht bekommen die Gesichter etwas diabolisch Fünfjähriges, und es wird Zeit zu gehen. Dann schlägt endgültig das Binge drinking zu, jene alte Geißel Englands, bei der man sich massenhaft und gezielt das Bewusstsein wegsäuft.

Der infantile Trotzgenuss der Engländer führt vor Augen, dass Benidorm nach wie vor ein Ort ist, an dem man sich nicht verhalten darf wie ein Restaurantkritiker, der große Küche erwartet und dann darüber mosert, in eine Imbissbude geraten zu sein. Die Lektion von Ed Glaser aber hat die Stadt ganz sicher gelernt. Der amerikanische Stadtökonom rückt Ökophilistern den Kopf zurecht, die glauben, ein grünes Bullerbü sei der einzig denkbare Hort von Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein. Sein Ratschlag an sie: „Liebst du die Natur, geh in die Stadt!“