Nirgendwo und überall
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Nirgendwo und überall

Süddeutsche Zeitung, 2013

Nirgendwo und überall

 

Die Natur wird nicht vom Menschen gemacht, aber sie wird von ihm beherrscht. Die Technik dagegen wird zwar vom Menschen gemacht, doch beherrscht er sie auch?

Was würde Seneca sagen, stünde er von den Toten auf und fände sich auf einmal in der digitalen Welt des 21. Jahrhunderts wieder? Es verschlüge ihm die Sprache. Zu allgegenwärtig erschiene ihm die Technik, zu überwältigend die gegenseitige Durchdringung unserer intellektuellen und sozialen, ökonomischen und politischen Sphären in den gigantischen Datenströmen des Internets. Dabei hatte der römische Philosoph eins der zentralen Probleme unserer Zeit schon vor 2000 Jahren so treffend in Worte gefasst, dass ihnen heute kaum etwas hinzuzufügen ist: „Nirgendwo ist der, der überall ist.“

Um zu ahnen, was das bedeutet, reicht ein Blick in einen beliebigen ICE-Großraumwagen. Wo man früher noch aus dem Fenster schaute, um die Welt auf sich wirken zu lassen, präsentiert sich inzwischen ein Stillleben mit fast autistischen Zügen: Allerorten drückt und wischt man an leuchtenden Geräten herum, um mit Abwesenden zu kommunizieren oder von Link zu Link immer haltloser durch die bunten Weiten des Online-Universums zu taumeln. Die Innigkeit unserer Hingabe an all die Smartphones, Tablets oder Notebooks lässt keinen Zweifel: Gerade einmal anderthalb Jahrzehnte haben gereicht, um dem digitalen Zeitalter mit Haut und Haar zu verfallen. Doch was bedeutet das für unser Denken, unsere Gesellschaft, unser Leben?

Verführerische Fliehkräfte

Keine dieser Fragen ist zu groß formuliert. Denn das Bild, das viele Studien von den neuen Medien zeichnen, lässt einen schaudern. Forscher weisen darauf hin, dass Menschen, die mit Links gespickte Texte lesen, weniger verstehen, als Nutzer gedruckter Informationen. Dass multimediale Darstellungen weniger erinnert werden, als die Inhalte von Buchseiten. Dass Menschen, die ständig von E-Mails und Nachrichten unterbrochen werden, weniger begreifen, als solche, die konstant bei der Sache sind. Oder dass Multitasker in kognitiven Tests schlechter abschneiden als Probanden, die es gewohnt sind, eins nach dem anderen zu tun – sogar dann, wenn es in der Laborsituation um das Multitasking selbst geht.

Der Grund: Das ebenso verzahnte wie ausufernde Durcheinander der Reize im Netz hält uns in ständiger mentaler Vorwärtsbewegung und erhebt das flüchtige Überfliegen zum vorherrschenden Denkstil. So sorgt es dafür, dass Informationen lediglich in unser Kurzzeitgedächtnis gelangen, aus dem sie bald darauf wieder verbannt werden. Auf diese Weise kann unser Gehirn keine jener starken neuronalen Verbindungen produzieren, ohne die unseren Gedanken der Zusammenhang fehlt und unserer Erinnerung die Tiefe. Die Entwicklungspsychologin Patricia Greenfield von der University of California in Los Angeles kommt deshalb zu dem Schluss, dass der ständige Umgang mit Monitoren zwar einerseits die räumlich-visuelle Intelligenz fördert, wovon etwa Piloten oder Anästhesisten profitieren; andererseits aber schwächt dieser Umgang alle kognitiven Prozesse, die abstraktes Vokabular und Reflexion, induktive Problemlösung und Vorstellungskraft verlangen. Das Fatale daran: Die zelluläre Struktur des Gehirns passt sich diesem oberflächlichen Denken an und untergräbt damit erst recht jene am sturen Fokus von Buchseiten geschulte Selbstdisziplin, die Kulturleistungen überhaupt ermöglicht.

Man kann über solche Befunde kaum sinnieren, ohne früher oder später an Sigmund Freuds Annahme zu denken, dass jede Kultur auf Triebverzicht aufbaut. Und mit dem scheint es in unserer Facebook-Welt nicht mehr weit her zu sein. Rund um die Uhr wird gesurft und gepostet, getwittert und gesimst, gechattet und geblogt. Der Mitteilungsdrang scheint nie größer, die Schwatzsucht nie ungebremster und indiskreter am Werk gewesen zu sein als heute. Und anstatt Begierden zu vertagen, gibt man seinen Spiel- und Zerstreuungsgelüsten allzu schulterzuckend nach – hier und jetzt und ohne Rücksicht auf die Umgebung. All dies bedeutet, dass der digitale Alltag seine fortlaufende Entgrenzung betreibt. Mit seinen verführerischen Fliehkräften in nie dagewesenem Ausmaß befördert er ein Verhalten, das man früher ohne zu zögern als kindisch gebrandmarkt hätte. Schließlich gehört im Umkehrschluss die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und zum Aufschub unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung zur Grundausstattung des Erwachsenseins. Grenzen sind deswegen das Erste, was Kinder zu lernen haben, um zu intakten Persönlichkeiten heranzureifen. Es sieht ganz so aus, als müsse sich der digital vagabundierende Erwachsene daran erinnern, um wieder zu sich selbst zu finden.

Schöne neue Welle

Dass manche Suchmaschinen mit Logos auftreten, die aus dem Malblock eines Kindes stammen könnten, erscheint da nur konsequent. Und tatsächlich spielen die Unternehmen bei der Einebnung von Grenzen eine bedeutende Rolle. Immerhin verdienen sie an der digitalen Verlustierung, durch die Daten entstehen, die sich teuer verkaufen lassen. Dabei automatisieren die Weltindizes unserer Zeit lediglich das Finden von Informationen. Die womöglich epochale Technologiewelle, die derzeit auf uns zurollt, hat indes anderes vor: Ihr geht es um die digitale Produktion von Wissen. Wenn sich alles so fügt, wie es derzeit den Anschein hat, dann wird das Wissen in Zukunft vielfach nicht mehr von Menschen erdacht und aufgeschrieben, sondern aus Datensätzen errechnet und neu komponiert – mit enormen Auswirkungen auf unser Leben.

Ihre Wucht erhält diese Welle von der gegenseitigen Potenzierung zweier Entwicklungen. Zum einen ist da „Moore’s Law“, die Verdopplung der Rechenleistung alle 18 Monate. Sie führt dazu, dass Alltagsgegenstände immer mehr computerisiert und vernetzt werden – von der ferngesteuerten Heizungsanlage über den Kühlschrank, der mit dem nächsten Supermarkt kommuniziert, bis zur chipbestückten Insulinpumpe, die sich von einem Server die richtige Dosis errechnen lässt. Und zum anderen ist da jene horrende, durch dieses „Internet der Dinge“ wie auch durch soziale Medien permanent wachsende Datenmenge. Gemeinsam führen beide Phänomene dazu, dass künstliche Intelligenz mittlerweile alltagstauglich funktioniert, dass unser Verhalten technisch simulierbar geworden ist, wie Frank Rieger vom Chaos Computer Club betont. Damit sind heute nicht nur Fließbandarbeiter ersetzbar, sondern zunehmend auch Buchhalter, Anwälte, Personalentwickler oder Journalisten. Die amerikanische Firma Narrative Science ist nur ein Beispiel von mehreren: Sie macht sich die algorithmische Textverarbeitung und die Verfügbarkeit von Rohdaten zunutze, um Programme anzubieten, mit denen sich etwa Sportreportagen rein maschinell schreiben lassen. Das Ergebnis, so Rieger, ist schon heute um nichts schlechter als das eines durchschnittlichen Sportredakteurs.

Die Digitalisierung von allem und jedem lässt uns über persönliche und berufliche Grenzen weiter hinauswachsen als uns vermutlich guttut. Dabei wird immer deutlicher, wie sehr wir diese Schranken brauchen, um uns gegen eine Technik zu behaupten, die zunehmend ihrer eigenen Logik folgt. Mittlerweile wagt sie sich sogar in eine Art irdische Form des Jenseits vor: Eine Stiftung im amerikanischen Vermont digitalisiert das Bewusstsein von Menschen, um es nach deren Tod in sozialen Netzwerken weiterleben zu lassen. Vielleicht findet sich darunter ja einmal ein neuer Seneca, der dann nirgendwo sein wird und doch überall. Es sei denn, man schaltet ihn ab. Auch die digitale Technik besitzt einen Knopf dafür.